Portrait

Christa Eder

Anblicke und Einsichten: Karlheinz Essl jun.

Karlheinz Essl über seine Beschäftigung mit mittelalterlicher Musik

Österreichischer Rundfunk, Ö1: Leporello (18 Nov 2011)

ORF


"Ich versuche, mich auf das Kunstwerk einzulassen und darauf zu reagieren. In einer zweiten Phase gehe ich dann sehr wohl in die Tiefe: Ich versuche sozusagen, mit meinen eigenen Mitteln, mit meiner eigenen Sicht in das Kunstwerk einzudringen."

Der Komponist und Klangkünstler Karlheinz Essl. Mit seinen elektroakustischen Arbeiten gilt er als Visionär einer zukunftsweisenden Musikästhetik. Morgen Abend stellt Essl im Rahmen von WIEN MODERN im Klosterneuburger SCHÖMER-HAUS jedoch ein Werk vor, das tief in die Vergangenheit abendländischer Musik reicht. Das Musikstück, in das Essl gleichsam eingedrungen ist, und das für seinen Werdegang von einiger Bedeutung ist, stammt aus dem späten Mittelalter.

Hier gibt es den ganzen Beitrag zum Nachhören:


"Es handelt sich um eine Komposition aus dem frühen 15. Jahrhundert, die einem englischen Komponisten namens John Dunstable zugeschrieben wurde. Das Stück heißt O rosa bella und ist ein Liebesgedicht, das Dunstable in Musik gesetzt hat. Das Interessante dabei ist: es entsteht da eine Musik, die zur damaligen Zeit vielleicht vergleichbar war mit Yesterday von den Beatles. Ein Hit, der sich damals innerhalb kürzester Zeit über den europäischen Kulturraum verbreitet hat und in verschiedensten Varianten und Bearbeitungen in den wichtigsten Handschriften der Zeit aufgetaucht ist."


John Dunstable: O rosa bella - Ballata (bearb. von Karlheinz Essl)


Die Beschäftigung mit dem Herbst des Mittelalters - so lautet die poetische Bezeichnung jener Epoche - liegt für Karlheinz Essl bereits einige Jahrzehnte zurück.

"1981: Da habe ich gerade begonnen, an der Wiener Musikuniversität Komposition zu studieren. Davor habe ich mit Musikwissenschaft begonnen. Mein musikalischer Background zu jener Zeit hat eher zu tun gehabt mit Jazz und Rockmusik. Ich bin dann in diese Welt der Musikwissenschaft eingetaucht und war schockiert, wie ich mich plötzlich im Mittelalter wiedergefunden habe, wo überhaupt nichts von dem, was ich an Musik kannte, gegriffen hat. Ich war dann sehr auf mich alleine gestellt und kam mit dieser Musik in Berührung, die mich unglaublich fasziniert hat. Ich habe mich dann so darin eingegraben, dass ich das Gefühl hatte, ich finde dort irgendwelche Antworten."

Das Gedicht O rosa bella tauchte im 15. Jahrhundert immer wieder auf. Die verschiedensten Komponisten griffen die Verse auf und vertonten sie auf jeweils ganz individuelle Weise. In den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts reihte sich auch Komponist Karlheinz Essl unter die Bearbeiter ein:


Karlheinz Essl: O rosa bella - Epilog (1981)


Bis heute hat Karlheinz Essl die Beschäftigung mit dem Liebeslied nicht losgelassen. Die Fragen, die er sich als Musikwissenschaftler stellte, sind nicht weniger, sondern noch zahlreicher geworden.

"Ich glaube, ich habe das irgendwie von John Cage auch gelernt: Es sind die Antworten nicht wichtig, sondern die Fragen, die man stellt. Wenn ich heute Kunst lese, höre, rezipiere, lasse ich mich auch intuitiv von dem jeweiligen Kunstwerk leiten und versuche dann Fragen herauszufinden, die mit mir selber in Beziehung stehen. Die Antwort selbst kann ich oft gar nicht geben. Indem ich einen bestimmten Aspekt des Kunstwerkes herausnehme und versuche, hinter die Oberflächen zu gelangen und dort Erkenntnisse zu finden, wird mir ein Spiegel vor Augen gehalten, in dem ich mich wiederfinde."

"Die wichtigste Antwort war für mich die Erkenntnis, dass hinter den klingenden Oberflächen, so schön sie auch sein mögen, sich unglaubliche Tiefen verbergen und ganze Kosmen. Durch die Beschäftigung mit der Musik von Dunstable und der ganzen Epoche habe ich gesehen, dass zum Beispiel Zahlenstrukturen ein Rolle spielen. Dass Texte eine Rolle spielen, die jetzt nicht als Text verwendet werden, sondern wo Buchstaben in Zahlenwerte übersetzt werden und dann ganze Matrizen von Bedeutungsstrukturen generieren, mit denen Komponisten dann weitergearbeitet haben. Das heißt, es gibt da eine Tiefenschicht, die mich interessiert hat und mich als Komponisten sehr angeregt hat."

In den zahlreichen Vertonungen fand Essl für das Mittelalter völlig unübliche Harmonien. Die Vielfalt der Bearbeitungen und die innovative Herangehensweise der einzelnen Komponisten erinnern ihn an unsere heutige Zeit, etwa an die pluralistische Vielfalt und die Umbrüche der Postmoderne. Im Herbst des Mittelalters befand man sich an der Schwelle: vom Aberglauben zum Vertrauen in die Vernunft. Heute ortet Essl erneut eine Zeitenwende, jedoch noch unbestimmbarer Art.

"Beide Zeiten - unsere heutige und jene um 1400 - sind gekennzeichnet von gesellschaftlichen Aufbrüchen. Es gibt dazu einen Aufsatz von Umberto Eco über das Neue Mittelalter, wo er unsere heutige Zeit und das späte Mittelalter miteinander in Beziehung setzt und aufzeigt, wie plötzlich Systeme zusammenbrechen, dass Glaubensgrundsätze nicht mehr gelten, dass sich alles mehr oder weniger auf den Kopf stellt und sich - unkontrolliert - selbst zu organisieren beginnt."

O rosa bella ist für Karlheinz Essl freilich nicht nur ein theoretisches Konstrukt.

"Es geht hier letztlich um die Liebe - es ist ein Liebeslied. Über solche Dinge kann man natürlich schwer sprechen, weil das mit sehr vielen privaten und persönlichen Dinge verbunden ist. Aber es hat natürlich mit Gefühlen von Liebe und Sehnsucht zu tun, was uns Menschen in irgendeiner Weise berührt oder betrifft. Es ist interessant, dass zur gleichen Zeit, wie meine Beschäftigung mit diesem Musikstück begonnen hat, ein Buch erschienen ist, das einen sehr ähnlichen Titel hat: Der Name der Rose von Umberto Eco, 1981."

Gleich am Anfang der Originalausgabe von Umberto Ecos Der Name der Rose steht ein kurzes lateinisches Gedicht. Es gibt für Karlheinz Essl all das wider, was Kunst auch aus ferner Zeit zu bieten hat:

Omnis mundi creatura
quasi liber et pictura
nobis est et speculum.

"Also: Jede Kreatur dieser Welt ist für uns wie ein Buch oder ein Bild oder ein Spiegel. Das heißt, es spricht zu uns nicht nur aufgrund seiner äußeren Erscheinung, sondern indem es uns etwas vorhält - eine Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen."


in: Leoporello, Anblicke und Einsichten: Karlheinz Essl jun.
Erstsendung im Österreichischen Rundfunks (Ö1) am 18.11.2011



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Updated: 13 Aug 2021

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