Musik schreiben im 21. Jahrhundert: Feder, Tinte und Laptop?
Ausschnitte aus einer Podiumsdiskussion mit Iris ter Schiphorst, Karlheinz Essl, Johannes Kreider und Johannes Maria Staud.
Moderation: Bernhard Günther
26. Januar 2017
Universität für Musik und darstellende Kunst
Video mit Ausschnitten aus der Podiumsdiskussion
Die gesamte Diskussion ist als Videostream verfügbar...
Karlheinz Essl [KHE]: Ich unterscheide für mich zwischen Notaten und Notationen. Um das zu erklären: Das Notat ist das, was ich, sozusagen privat, brauche, um an ein Stück heranzukommen: das Sich-Erschreiben eines Gedankens, das Finden einer Klärung aus dem Wust an Ideen. Das ist etwas sehr Privates, und das andere ist dann, wie man diese Ideen kommunizieren kann, sodass sie als Text oder als Handlungsanweisung für Ausführende funktionieren können. Es ist im Fall der Elektronischen Musik oder der Medienmusik auch so, dass vieles über Notation nicht kommunizierbar ist. Dann ist die Notation vielleicht ein Aspekt einer Komposition, der als Handlungsanweisung für einen Spieler notwendig ist. Aber vieles lässt sich nicht notieren, zum Beispiel wenn Live-Elektronik dazu kommt, die mit Algorithmen und mit Zufallsoperationen arbeitet, durch die das Ergebnis immer anders ist. Das ist eigentlich nicht notierbar, auch wenn die Computerprogramme, die das hervorbringen, natürlich notiert sind. So gibt es immer eine Unschärfe der Notation als ikonenhaft niedergelegter ‚Text‘, der aber gleichzeitig nicht das repräsentiert, was das Stück eigentlich ist, sondern eben nur eine Grundvoraussetzung für die Aufführung darstellt. Die Musik kommt dann erst durch die Interaktion mit der Elektronik zu Gehör und wird dann auch zum Werk.
Über die Schönheit des Notenbildes
KHE: Mich haben die Beethoven-Klaviersonaten in der Schenker-Ausgabe immer sehr fasziniert, weil sie handwerklich unglaublich gut gesetzt sind. Ich habe dann versucht herauszufinden, ob es irgendwelche Informationen gibt, wie man die Notengraphik richtig macht, und bin draufgekommen: Das ist eine schwarze Kunst, da gibt es überhaupt nichts. Das war in den 1980er-Jahren als ich studiert habe, da sind nach und nach PCs aufgekommen und auch erste Computerprogramme wie Finale. Wenn man sich die ersten Ausdrucke angesehen hat, hat das grauenhaft ausgesehen; verglichen mit diesen handgestanzten, gestochenen Klaviersonaten von Beethoven war das absolut letztklassig. Dann ist aber bei Doblinger ein Buch herausgekommen, Die Praxis des Notengraphikers1 in dem der Autor ganz genau darüber Auskunft gibt, was es für Proportionssysteme und für Bezugssysteme, zum Beispiel innerhalb des Rastrals, gibt, also der Abstände zwischen den Notenlinien, und was das für Auswirkungen auf die Taktierung und die Größe von Notenköpfen und -hälsen usw. hat. Mich hat das damals unglaublich fasziniert, weil ich das wahnsinnig schön fand, was man damit machen kann, wenn man dieses System beherrscht; dass man nicht einfach nur irgendetwas hinschreibt, sondern dass das selbst auch eine Gestalt hat. Dass zum Beispiel eine ganze Note eine andere Schattierung hat als eine halbe Note, weiß man heute fast nicht mehr, weil der Computer es automatisch macht. Wenn man das aber einmal verstanden hat, dann kann man das auch viel besser verstehen und lesen.
Erweiterte Spieltechniken und deren Notation
KHE: Ich habe immer Bücher zu Instrumentation und Spieltechniken gekauft. Mich interessiert weniger die Notation, sondern eher die verschiedenen Arten der Spieltechniken auf Instrumenten, die außerhalb dessen liegen, was man üblicherweise verwendet. Wenn man z.B. den Bartolozzi2 mit den neueren Büchern über Holzblasinstrumente3 vergleicht, dann sieht man auch, wie sich das unglaublich stark verändert hat. Am Anfang der Bartolozzi, unglaublich unpraktisch, und auch falsch, aber mittlerweile hat sich eine Art Standard herausgebildet. Aber wie Johannes Kreidler bereits angemerkt hat, sind das einfach Materialien, man beschäftigt sich damit, aber letztlich muss man sich auch frei machen und seinen eigenen Weg gehen, ohne immer ein neues Notationssystem zu erfinden, das auch schwer zu kommunizieren ist. Ich glaube, die Kunst ist, dass man doch, soweit es geht, auf einen common sense Bezug nimmt und die Änderungen nur dort macht, wo sie notwendig sind.
Graphische Notation
KHE: Ein Beispiel einer graphisch notierten Komposition von mir ist Partikel-Bewegungen (1989), geschrieben für Harald Naegeli, dem Sprayer von Zürich. Ich hatte mit ihm eine Zeit lang zusammengearbeitet und eine Musik für drei Blasinstrumente geschrieben – also für drei akustische Spraydosen, wenn man so will –, die im Raum verteilt waren und eine Partitur gespielt haben, die nicht mit üblichen Notationssystemen notiert war, sondern direkt aus einem Computerprogramm entstanden ist, das mit gewissen Symbolen und Zeichen gearbeitet hat, direkt im PostScript sozusagen, aus dem Drucker herausgekommen
sind.
Ausschnitt aus Partikel-Bewegungen
Ich habe das einmal dem Organisten Roman Summereder gezeigt und er hat dann gesagt, er möchte das spielen. Sag ich: Ja, aber das ist doch für drei Blasinstrumente, sagt er: Nein, das mache ich auf der Orgel. Er hat sich dann das Stück hergenommen und es überarbeitet. Die Zeichen sind ganz einfach: Es gibt Kreise und Punkte und Rauten, die bestimmte Klangpunkte oder Flächen oder verschiedene Arten von dynamischen Funktionen darstellen, in verschiedenen Längen, je nach Zeit, und verschiedenen Höhen, je nach Register. Er hat sich das so eingerichtet, dass er es auf einer speziellen Orgel in Mülheim an der Ruhr spielen kann, die auch eine mechanische Windlade und eine mechanische Traktur hat. Das heißt, man konnte die Orgel dynamisch spielen und auch mit halbgezogenen Registern arbeiten. Er hat dann mit Rotstift die Sachen total überarbeitet und das Tempo wahnsinnig gestreckt: Eine Seite, die laut Anweisung in 30 Sekunden zu spielen ist, dauert bei ihm dann zwei Minuten. Das hat er dann in einem Aufsatz über Neue Orgelmusik4 publiziert, und darin ist auch eine Seite dieser überarbeiteten Partitur von mir abgedruckt. Ich war überrascht zu sehen, was er noch alles an Zusatzinformationen hinzugenommen hat, sodass ich sagen muss, er hat das Stück eigentlich dann weiterkomponiert.
Partikel-Bewegungen, eingerichtet für die Orgel von Roman Summereder (1997)
Notation live-elektronischer Musik
BG: Karlheinz - vorhin wurde kurz ein Schubert-Beispiel gezeigt, das Ganze ist aber auf einem Computerbildschirm. Ist das eine intendierte Zustandsveränderung der Interpretinnen, wenn sie das plötzlich live generiert am Bildschirm sehen, oder ist das quasi Neutralität des Mediums?
FABRIC (2016-2018) - Computerprogramm und Aufführungspartitur
KHE: Der Interpret bei diesem Stück bin ich selbst, ich glaube, das kann sonst niemand spielen. Damit man versteht, worum es da geht: FABRIC ist eine Sound- und Video-Performance über eine Wiener Textilfabrik aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, die einer jüdischen Familie namens Altmann gehörte. Der Name Altmann ist bekannt im Rahmen der Restitution eines sehr berühmten Gemäldes von Gustav Klimt, Adele Bloch-Bauer I, das dieser Familie gehört hatte. In diesem Stück geht es um die Geschichte dieser Fabrik, in der viele Textilarbeiterinnen gearbeitet haben. Es geht um die Geschichte dieses Bildes und um Gustav Klimt, der diese Adele gemalt hat und mit ihr offensichtlich auch ein Liebesverhältnis hatte, also eine sehr komplizierte Sache. Das Stück besteht aus nur zwei Materialien: Es ist der Anfang von dem berühmten Lied Gretchen am Spinnrade von Schubert, und das zweite ist der Klang einer Nähmaschine. Aus diesen beiden sehr disparaten, extrem unterschiedlichen Klangstrukturen entsteht dann über viele verschiedene Prozesse dieses Stück.
Wenn man sich jetzt diesen Schubert anschaut, sind das vier unterschiedliche Klangschichten: Es gibt einen "ground", also dieser Basston d, der eigentlich so wie das Pedal der Nähmaschine ist, das man ganz gleichmäßig tritt; dann gibt es dieses Herzschlagmotiv: „Bam ba-bam ba-bam ba-bam“ und das Spinnrad selbst als rotierende Sechzehntelfigur; und zuletzt oben die Singstimme. Diese Klangschichten wurden von mir isoliert, auseinandergezogen, und die kann ich beim Spielen in ihrer Dynamik unterschiedlich miteinander vermischen. Dann werden sie noch durch verschiedene elektrische Klangprozessoren geschickt, die nach und nach aus dieser schönen Schubert-Textur eine wall of sound erzeugen, die eigentlich wie ein Ensemble von Glenn Branca klingt, wo ganz viele E-Gitarren gleichzeitig spielen. Dazu gibt es dann auf der rechten Spalte des Bildschirms eine Partitur: Das sind für mich sozusagen die Spielanweisungen, die ich befolgen muss, um dieses Stück zu spielen und seinen "sound" hervorzubringen. Das sind eigentlich nur Anweisungen für Prozesse, die ich steuere, wobei die Zeitvorgabe nicht gegeben ist. Das heißt, ich höre, was passiert und kann dann entscheiden, wann die nächste Zeile in der Partitur gespielt wird, wobei es schon Anweisungen gibt, ob das jetzt eher langsamer oder eher schneller ist. Das ist ein typischer Fall einer Notation, die keinen Text darstellt, sondern eine Handlungsanweisung. Ich brauche aber auch die Imagination dieses originalen Schuberts, den man nie hört, als Vorlage, um zu wissen: Das ist meine Basis, mit der ich arbeite.
Notation offener Formen
BG: Aber das ist jetzt ein sehr spezieller Fall, weil Du als Interpret sehr viel Geduld mit Dir als Komponist hast. Aber ich möchte noch kurz auf das Beispiel 7x7 eingehen; noch einmal mit dieser Frage der Notation und der nonverbalen Mitteilungen an die Interpreten: Das Stück ist für vier Gitarristen, und wenn die nun dieses Blatt vor sich haben, versetzt sie das doch in einen anderen emotionalen Zustand als einfach nur eine klassische Notation, die von A nach Z geht, oder?
7x7 fo(u)r guitars (2009) - Spielpartitur
KHE: Ja. Und zwar deswegen, weil es zwar ganz genau notierte Klangereignisse sind, die zu spielen sind, aber die Kombination dieser Klangereignisse durch einen Prozess entsteht, der nicht vorhersehbar ist. Jeder Musiker beginnt an einer anderen Stelle, an einer anderen Ecke der Partitur: Der Erste beginnt links oben und geht dann langsam in das Zentrum, in dieses Mittelfeld; der Zweite geht von oben nach rechts – sie machen also vier Spiralen in verschiedenen Richtungen. Die Abfolge der einzelnen Klangereignisse ist zwar vorgegeben, aber wann diese gespielt werden, entscheiden die Musiker. Das heißt, die Musiker hören, was die anderen machen und entscheiden dann, wann sie den nächsten Klang spielen und wie lange, weil die Dauern dieser Klänge auch nicht vorgegeben sind. Da gibt es zum Beispiel oben links im Feld einen E-Bow, der auf der leeren A-Saite ein Crescendo und ein Decrescendo macht, das kann man zwanzig Sekunden oder vier Sekunden lang spielen. Das entscheiden dann die Musiker aufgrund des globalen Kontexts. Im Grunde entsteht in dem Stück dann so eine Art ‚soziales Spiel‘, alle sind eigentlich Teil eines großen Ganzen, hören aufeinander und entscheiden dann, wann sie weitergehen. Das Stück ist nun so komponiert, dass harmonisch alles zusammenpasst; es ist wie ein großes Puzzle, bei dem jeder Stein im anderen auch einen Sinn ergibt, weil es ein gemeinsames harmonisches Feld gibt, das verschiedenartig artikuliert wird. Die Musiker kommen dann auch in so eine Art Trancezustand, weil sie zwar genau wissen, dass jetzt das nächste Motiv kommt, aber sie warten können, bis der richtige Moment gekommen ist, in dem sie es dann anbringen können. Das heißt, es ist ganz genau notiert, aber es gibt eine Freiheit, die aber nichts mit Improvisation zu tun hat, sondern eher mit dem gemeinsamen Agieren. Aus diesem Gruppenprozess entsteht dann das Stück, das natürlich auch immer anders ist.
Komposition vs. Improvisation
KHE: Meine Beschäftigung mit freier Improvisation war für mich als Komponist eine große Erleichterung, weil ich lange Zeit sehr genaue Partituren geschrieben habe. Durch meine Beschäftigung mit der Elektronik und vor allem frei improvisierter Musik, die keinen Vorgaben folgt, sondern aus dem Moment heraus etwas schafft, habe ich auch gelernt, als Komponist einen ganz anderen Weg einzuschlagen und auch diese Intuition und diese Freiheit zuzulassen. Allerdings trenne ich das gern – das eine ist das Improvisieren und das andere ist das Komponieren. Ich möchte meinen Musikern auch keine Improvisationsanleitungen geben, sondern ganz klare Handlungsanweisungen, die sie interpretieren. Es gibt in meinen Stücken eigentlich keine Passagen, die sagen: jetzt improvisiert einmal. „Eine kleine Ausnahme findet sich in der Mitte des 7x7-Schachbretts. Warum hat das 7x7 Felder? Damit man ein Mittelfeld hat. In diesem findet zuletzt eine Kollektivimprovisation statt. Aber es gibt auch ein Tonmaterial, mit dem die MusikerInnen arbeiten. Wenn sie in der Mitte ankommen, dürfen sie mit diesen fünf Tönen improvisieren, allerdings nur mit Materialien, die sie vorher schon verwendet haben. Das heißt, sie haben schon genaue Anweisungen, und es wird natürlich keine freie Improvisation.
Schreibmaterialien
BG: Vielleicht kommen wir auf den uns vorgegebenen Untertitel, „Feder, Tinte und Laptop“: Ich persönlich hatte mich ja gewundert, dass der berühmte 2B-Bleistift gar nicht erwähnt wurde. Was ist denn Euer Handwerkszeug, euer Schreibwerkzeug: Feder, Tinte, Laptop?
KHE: Ich fange jetzt an, weil Du 2B-Bleistift sagst: Das ist ganz wichtig, denn ich bin ein totaler Fetischist, was Bleistifte anbelangt. Ich habe wirklich lange gesucht, bis ich den richtigen gefunden habe, ein Druckbleistift von Faber mit einer 07er-Mine in 2B… Leider gibt es den in Wien nicht mehr zu kaufen. Ich muss immer nach Deutschland fahren, an Flughäfen findet man das manchmal in gut sortierten Schreibwarengeschäften. Ich liebe das, weil es ein weiches Kirschholz ist, weil die Mine dick ist, also 07, ich muss nicht ständig den Schreibfluss bremsen, weil ich die Mine spitzen muss, und sie bricht nicht so leicht ab, eben weil sie dicker ist. Und 2B ist wichtig, weil es dann einfach unglaublich am Papier flutscht.
Schreibmaterial Instrument
KHE: Ich möchte noch das Instrument als Schreibmaterial ins Spiel bringen. Ich habe vor einiger Zeit ein Stück für Guzheng namens river_run geschrieben, für eine chinesische Wölbbrettzither mit 21 Saiten. Ich habe mir so ein Instrument gekauft und keine Ahnung gehabt, was ich damit machen werde. Ich wollte es einfach befragen, dass es mir sagt, was ich damit anfangen werde. Ich habe dieses Instrument hergenommen und bin draufgekommen, dass es pentatonisch gestimmt ist, also nur fünf Töne hat. Wenn man das spielt und über die Saiten glissandiert, dann klingt das wie in einem China-Restaurant, also ganz grauenhaft. Aber es hat einen sehr schönen Klang mit vielen Resonanzen. Ich habe dann viele Wochen nachgedacht, bis ich endlich zu einer Stimmung gekommen bin, die diese Pentatonik zwar im Zentrum hat, aber sie gleichzeitig auch modifiziert. Das heißt, ich wiederhole die pentatonische Zelle nicht in der Oktav, sondern in der großen Sept. Daraus entsteht ein ganz interessantes pan-chromatisches pentatonisches System, mit dem ich dann wochenlang improvisiert habe.
Ich habe zuerst im Internet nach Anweisungen gesucht, wie man das Guzheng spielt, und dann eine Freundin von mir, die taiwanesische Komponistin und Guzheng-Spielerin Ming Wang, eingeladen, mit mir gemeinsam das Instrument einmal durchzuschauen und mir einige Spieltechniken zu erklären, und bin draufgekommen: Ich kann das nicht! Das ist ein Meisterinstrument, ein Virtuoseninstrument, ich habe nicht 15 Jahre meines Lebens Zeit, mich damit zu beschäftigen. Dann habe ich begonnen, das Instrument wie ein naives Kind zu spielen, einfach nur, was da ist und was es mir anbietet. Aus dem heraus ist dann letztlich ein Stück entstanden, von dem ich das Gefühl habe, dass es sich eigentlich wie von selbst geschrieben hat. Das habe ich dann aufgeschrieben, mit Papier und 2B Bleistift. (lacht)
BG: Und vorher stand eine MIDI-fizierte Aufnahme?
KHE: Nix MIDI, nix…
BG: …aber aufgenommen, also: Tonaufnahme?
KHE: Das Stück arbeitet mit Live-Elektronik, das heißt, ich habe die Live-Elektronik sofort mitkomponiert und das Stück sozusagen ‚empirisch‘ mit der Elektronik erarbeitet und dann auch immer wieder fixiert – also die Elektronik, das Programm und gleichzeitig auch die Notation. Aus dem heraus ist dann eine ganz klare, ganz präzise Partitur geworden, die auch gemeinsam mit dem Computer zusammenspielt.
Was ist überhaupt notierbar?
KHE: Es geht jetzt nicht um Notationssoftware, sondern generell um die Frage: Was ist notierbar? Es gibt Sachen, die nicht zu notieren sind. Wenn ich zum Beispiel versuche, eine virtuose Improvisation eines Gitarrensolos von Jimi Hendrix zu transkribieren – die gibt es natürlich, etwa von Steve Vai –, aber das ist überhaupt nicht das, was das Stück ausmacht. Das sind einfach die nackten Noten in einem diastematischen System, vielleicht mit Rhythmen. Aber alles, was noch dazu kommt, all diese klanglichen Sachen sind nicht notierbar.
Johannes Kreidler: Doch.
KHE: Dann brauchst Du, wie bei Klaus K. Hübler5, wahrscheinlich zehn Systeme, die untereinander stehen.
Johannes Maria Staud: Aber diese Überinformation, die man als Komponist mit Notation mitgeben kann, kann einem utopischen Klangideal schon sehr nahe kommen, mit vielen Angaben von Details, man könnte das sehr ins Extrem treiben. Die Frage ist, ob das Sinn macht.
KHE: Aber das Ergebnis, das dabei herauskommt, ist zumeist hölzern. Richard Barrett, den ich sehr schätze und mit dem ich gut befreundet bin, schreibt seine Musik, die ja auch so hyperkomplex ist, auf ganz vielen verschiedenen Parameterschichten, aber seine Idee ist eigentlich diese Unmittelbarkeit einer freien Improvisation. Er versucht das jetzt, indem er den Parameterraum unglaublich aufsplittet. Aber weil er so ein Praktiker ist, sind die Sachen auch wirklich realisierbar. Wenn man sich aber andere Partituren von Komponisten anschaut, die mit solchen Methoden arbeiten und vielleicht diesen Background nicht haben, dann kommt wirklich hölzerne Musik raus. Es gibt schon eine Grenze, an der man einfach wissen muss, dass man nicht alles notieren kann und es einen Bereich gibt, der sich dem entzieht.
Anmerkungen
Dieser Text beeinhaltet einige Wortbeiträge von Karlheinz Essl anläßlich einer Podiumsdiskussion, die im Rahmen der Ringvorlesung Writing Music. Zu einer Theorie der musikalischen Schrift am 26. Januar 2017 an der Universität für Musik und darstellende Kunst im Festsaal Seilerstätte stattgefunden hat.
Fußnoten
1 Herbert Chlapik, Die Praxis des Notengraphikers (Doblinger: Wien 1987)
1 Bruno Bartolozzi, New Sounds for Woodwinds (London 1967)
3 Marcus Weiss und Giorgio Netti, The Techniques of Saxophone Playing / Die Spieltechnik des Saxophons (Bärenreiter: Kassel 2010)
4 Roman Summereder: »Die Zukunft der Orgel« – Schönbergs Textfragment und 100 Jahre Österreichische Orgelmusik.in: Festschrift 100 Jahre Kirchenmusikstudium in Wien 1910 - 2010, hrsg. vom Institut für Orgel, Orgelforschung und Kirchenmusik an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien (Wien 2010)
5 Klaus Kurt Hübler: 3rd String Quartet ‘Dialektische Fantasie’ (1982/84) Breitkopf & Härtel, PB 5155