Wenn ein Klang scheinbar in dem Moment, in dem er entsteht, auch schon elektronisch manipuliert wird, spricht man von "Echtzeitprozeß". Damit daraus Musik entsteht, muß man allerdings mehr tun, als aufs Knöpfchen zu drücken. Was genau, darüber gab der österreichische Komponist Karlheinz Essl Auskunft.
E in leeres Podium: nur links und rechts an den Seiten Lautsprecherboxen, aus denen es modulierte und gefilterte Frequenzen blubbert, kracht und pfeift, Davor sitzt eine andächtige Zuhörerschar, die mit wissenschaftlicher Akribie dem musikalischen Fortschritt lauscht. Die legendären Lautsprecher-Konzerte der 50er und 60er Jahre sind fixer Bestandteil im Avantgarde-Museum des 20. Jahrhunderts.
Derart puristische Klangbäder sind heute passé. Neben generierten Klängen und verspielten Klangcollagen tummeln sich auf dem musikalischen Podium wieder Musiker mit ihren Instrumenten. Live-Elektronik, als spannendes Wechselspiel zwischen Interpreten und elektronischem Klangenvironment, ist "in", nicht zuletzt, seitdem im Sog der "versampelten" Pop-Musik-Branche die computergesteuerte Klangverarbeitung Ende der 80er Jahre zum Quantensprung angesetzt hat.
"Echtzeitprozeß" heißt das neue Schlagwort, das mit seinen sensationellen Resultaten in der technisch schnellebigen Szene für einige Stabilität gesorgt hat. 8 Millionen und mehr Rechenoperationen pro Sekunde ermöglichen nunmehr die Transformation eines Klanges im Mikrosekundenbereich, für das menschliche Ohr also scheinbar im Augenblick seines Entstehens.
"Man darf die technischen Möglichkeiten auch nicht überbewerten. Es ist immer noch der Komponist, der seinen Gestaltungswillen einbringt und nicht die Maschine, die jetzt alles für einen macht, wenn man aufs Knöpferl drückt", ist Karlheinz Essl bemüht, die Relationen zurechtzurücken. Sein neues Stück Entsagung, das im Studio des Pariser IRCAM entstanden ist, wird am 6. November im Rahmen eines IRCAM-Gastspiels bei "Wien modern" zu hören sein.
"Viele Leute, die dort zum ersten Mal arbeiten, kommen noch mit der Vorstellung hin: die haben super Maschinen, leiwande Programme, alles funktioniert, und man braucht nur hingehen und irgend eine Idee zu haben. Die Komponisten, die dort arbeiten, müssen erst einmal verstehen, daß sie im Grunde eigentlich alles selber machen müssen. Den leiwanden Klang gibt's nicht."Essl war vom renommierten Pariser IRCAM vor zwei Jahren eingeladen worden, für die neueste Entwicklung, die IRCAM Musical Workstation, ein Stück zu komponieren. Ein Auftrag, der mit einer insgesamt fünfmonatigen Arbeitsphase in Paris verbunden war, inklusive eines Kurses, um sich mit der Technologie vertraut zu machen. "Im Grunde ist die 'Workstation' ein offenes System, das im Unterschied zu kommerzieller Software nichts vorgibt. Man kann alles selber machen. Zuerst haben wir einen Sampler gebaut. Damit kann ich in das mikroskopische Klanggefüge eingreifen und es kontrollieren." Mittlerweile ist nicht nur das neue Stück für Flöte, Baßklarinette, Schlagzeug, Klavier und interaktives Klang-Environment pünktlich fertiggestellt, sondern die Workstation auch käuflich erwerbbar. Insgesamt existieren 40 Stück, 4 davon in Wien.
Paris war Mitte der 70er Jahre zu einem günstigen Zeitpunkt auf das noch wenig genutzte elektronische Vehikel aufgesprungen, als man den Avantgardekomponisten Pierre Boulez, der inzwischen in aller Welt als Dirigent gefeiert wurde, mit dem hochdotierten Institut de Recherche et de Coordination Acoustique/Musique (IRCAM) nach Paris heimholte - ein angesichts des finanziellen Aufwands und der schnell alternden Hard- und Software zum Teil heftig angefeindetes Unterfangen. Doch Boulez verstand es - darin lediglich dem Freiburger Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung und dessen Hauskomponisten Luigi Nono vergleichbar -, der technischen Forschungs- und Aufführungsstätte eine künstlerische Perspektive zu geben, die auf die musikalischen Möglichkeiten eines Echtzeitprozessors, der 'Workstation' ausgerichtet war. Der technische Durchbruch ging denn auch einher mit der Komposition von Boulez' Hauptwerk Respons (1981) für Solisten, Ensemble, Computerklänge und Live-Elektronik, dem es im vergangenen Jahr sogar gelang, das Salzburger Festspiel-Publikum zu begeistern.
Die 'IRCAM Musical Workstation', eine handliche Computereinheit, die Studio und Instrument in einem ist, hat Essl's Entsagung auch in der musikalischen Erfindung beeinflußt: als Realisation einer musikalischen Sprachfindung, in der sich Instrumental- und Lautsprecherklänge einander annähern, wobei
"das Material, das von den Musikern und aus den Lautsprechern kommt, im Kern ident ist. Die Klänge sind zwar als Flöte, Baßklarinette, Klavier und Schlagzeug erkennbar, haben aber doch eine ganz andere Qualität. Meine Absicht war es, daß das, was aus den Lautsprechern kommt, instrumentale Qualitäten hat, 'empfundener', gespürter Klang ist. Auch wenn man viele Klangtransformationen mechanisch gar nicht umsetzen könnte. Das hab' ich dann auskomponiert und händisch hergestellt. Das ist Handarbeit im besten Sinne."
in: FALTER 42/93 (Wien 1993)
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Updated: 23 Dec 1998