Symposium Komposition & Forschung
Gustav Mahler Privatuniversität für Musik Klagenfurt
14. März 2023
Abstract
An Hand von zwei aktuellen Fallstudien wird dargestellt, wie sich Komponieren durch künstlerische Reflexion von Krisen neu definiert und durch Zusammenarbeit neue Formen künstlerischer Praxis entstehen, die keinem vorgegebenen Muster folgen.
Fallstudie #1
Während des Corona-Lockdowns 2020 arbeitete sich ein bunt zusammengewürfeltes Kollektiv von vier einander kaum kennenden Komponist:innen (Tanja Elisa Glinsner, Jakob Gruchmann, Till Alexander Körber und Karlheinz Essl) an Valentin Omans Bilderzyklus "Piraner Kreuzweg" (1991) ab, der die Schrecken des Balkankrieges thematisierte und dem heute wieder eine beklemmende Aktualität zukommt. Man traf sich wöchentlich zu einer Videokonferenz und entwickelte aus der Ferne gemeinsame inhaltliche, formale und kompositorische Strategien, aus denen sich im Laufe eines Jahres die abendfüllende Kollektivkomposition TAU – Zeichen des Umbruchs für Ensemble und Stimme entwickelte.
Fallstudie #2
In Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Erwin Uhrmann entstand zwischen 2018 und 2021 das Hörbuch K.O.P.F. (Kartografisch Orientierte Passagen Fragmente), das sich künstlerisch-forschend mit der durch den Klimawandel gefährdeten Natur auseinandersetzt. Binaurale Soundscapes wurden mit Hilfe eines selbstentwickelten Computerprogramms algorithmisch transformiert. Sie dienten als Trigger für die lyrische Textproduktion, die wiederum auf die Klangkomposition zurückwirkt und deren Neugestaltung verlangt. Aus den Geo-Koordinaten der Feldaufnahmen wurden mit Hilfe des Internetdienstes what3words zufällige Keywords generiert, die in die Texte einfloßen und deren Inhalt beeinflußten.
Die so entstandenen Hörstücke für Sprechstimme und 3D-Soundscapes wurden zuletzt vom Schriftsteller Udo Kawasser, dem Künstler Felix Kruis, dem Musikwissenschaftler Julian Kämper und dem Klangforscher Gerhard Eckel mit eigenen künstlerisch-wissenschaftlichen Reflexionen kommentiert.
Sonifizierung
Diese beiden hier skizzierten nicht-linearen rückgekoppelten (sozialen) Systeme entwickeln sich auto-poiëtisch in einem bottom-up Prozess, der zu überraschenden und nicht vorhersehbaren Ergebnissen führt. Dieses Prinzip wird am Ende meiner Lecture in der Live-Performance Coastlines für einen winzigen modularen Synthesizer und einem analogen Mischpult klanglich erlebbar gemacht.