Veröffentlicht am 10. April 2023
Karlheinz Essl 2009 im Studio kHz in Klosterneuburg
© 2009 by Johannes Tichy
Es ist wohl schon ein gutes Vierteljahrhundert her, als er dem nur wenig jüngeren Studienkollegen auffiel: Jener Kommilitone, der nicht nur im gemeinsamen Fach Musikwissenschaft an der Wiener Universität den Eindruck des Musterschülers vermittelte und immer die Nase vorn hatte (der dieses Fach also nicht, wie mancher andere eher mangels geeigneter Alternativen, sondern aus echtem Interesse gewählt zu haben schien), der daneben auch noch „interessant“ wirkte, weil er auch Kompositionsstudien an der damaligen Wiener Musikhochschule betrieb, und der auch deshalb etwas „abgehoben“ wirkte, weil er Vorreiter in einem Bereich war, von dem kaum einer von uns wirklich eine Ahnung hatte – der elektronischen bzw. elektroakustischen Musik: Karlheinz Essl. Jahr(zehnt)e später ist dem Verfasser zwar diese Welt nach wie vor nicht gerade vertrautes Terrain, der gemeinsame Rückblick und die Einweisung durch den Profi freilich faszinieren. So beginnt denn auch das Gespräch unmittelbar in jenem Bereich, in dem Essl seit langem als Vorreiter in der österreichischen Musiksszene gilt:
Karlheinz Essl: Meine Beschäftigung mit dem Computer hat Mitte der 1980er-Jahre begonnen. Voraussetzung war zweierlei: Zum einen meine Freundschaft mit Gerhard Eckel, der jetzt eine Professur für Computermusik und Multimedia an der Grazer Musikuniversität hat und der mir die Auseinandersetzung mit dem Computer in Hinblick auf mein strukturelles Denken empfahl. Ich selbst hatte das ursprünglich strikt abgelehnt. – Das zweite war ein Buch, das 1984 erschienen ist und das ich mir kurz darauf gekauft hatte: Order Out of Chaos von Ilya Prigogine, einem russisch-französischen Physiker und Nobelpreisträger. Er beschreibt darin, wie sich in nicht-linearen Systemen, die sich nicht im Gleichgewicht befinden, chaotische Zustände manifestieren, die aber ohne Wirkung einer äußeren Kraft und Ordnung plötzlich von sich aus zu Ordnungsstrukturen führen können. Und dafür hat er einen Nobelpreis bekommen. Im Grunde war das eine naturwissenschaftlich-chemische Arbeit, aber es hat dann plötzlich auch in Zusammenhang mit den politischen Entwicklungen in den 1980er-Jahren gezeigt, dass das auch ein Symbol für gesellschaftliche Veränderungen ist: Dass der Absolutismus, die Herrschaft von oben, die alles kontrollieren möchte, zwar Ordnung, aber auch sehr viel Unfrieden schafft. Und dass es auf der anderen Seite im Anarchischen Möglichkeiten der Selbstorganisation gibt, die eben nicht von oben kommen, sondern von unten. Das hat mich unglaublich fasziniert. Und das habe ich in meiner Musik auch umzusetzen versucht. Im Zusammenhang damit habe ich mich dann mit Algorithmik beschäftigt und entschieden, eine Programmiersprache zu lernen, mit deren Hilfe eine individuelle „Microworld“ in Form von Software gebaut werden, in der man sich ausdrücken kann.“
In der Programmiersprache Logo, die ursprünglich das abstrakte Denken von Kindern fördern sollte, entwickelte Essl Werkzeuge für musikalische Komposition:
Natürlich habe ich mit Logo nicht nur Quadrate gezeichnet, sondern z. B. Rhythmusgeneratoren entwickelt, aber auch Tonhöhennetze oder Zufallsoperationen, die nicht nur den blinden Zufall eines Würfels simulieren, sondern gewissermaßen ein Erinnerungsvermögen besitzen und sich merken, welche Zahlen schon einmal vorgekommen sind. Also quasi serielle Zufälle mit Wiederholungsverboten. Das waren aber alles symbolische Operationen ohne Klangausgabe. Der Output war eine Liste mit alpha-numerischen Partiturdaten. Diese Liste musste ich dann in mühsamer Arbeit transkribieren, in eine Art Particell übersetzen, und mit dieser Zwischenschrift habe ich dann kompositorisch improvisiert. Dieses Improvisieren mit den Strukturvorgaben war eigentlich das Spannendste dabei.
Gemäß den aufwändigen Rechenoperationen solcher Programme stellt sich das derartige Arbeiten wie ein Abenteuer aus Pionierzeiten dar.
Das alles passierte Mitte bis Ende der 1980er-Jahre – nach meinem Streichquartett Helix 1.0 (1986), das ich noch ohne Computer komponiert hatte. Und danach entstanden die ersten Kompositionen, die mit Computerprogrammen erarbeitet wurden. Da habe ich über Nacht den Computer rechnen lassen, und am Morgen hatte ich das Ergebnis – ein A4-Blatt mit Partiturdaten – und die Frage: Und was passiert jetzt damit?! Da beginnt dann der eigentliche Spaß. Das mache ich heute aber nicht mehr; damals hingegen war mir das wichtig. Im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, dass mich die freie Ausarbeitung und das Improvisieren mit Strukturvorgaben mehr interessiert, als einen Computer dafür einzusetzen. Und ich bin draufgekommen, dass ich etwa in Hinblick auf die Harmonik gewisse Sachen einfach viel besser kann als jeder Computer!
Helix 1.0 (1986) für Streichquartett
Recorded 1989 by Arditti Quartet (London)
Released on Karlheinz Essl's CD Rudiments (1995)
Wie hat sich dein Zugang seither verändert?
Ich war eine gewisse Zeit ein Eigenbrötler und habe seither eine Entwicklung gemacht, die mich geöffnet hat und mir ermöglicht, mich auch mit Komponistinnen und Komponisten anderer Ästhetik auseinanderzusetzen, und sie nicht als „Gegner“ zu sehen. Als ich angefangen hatte – nach dem Studium – befand ich mich demgegenüber noch in einer recht engen Welt.
Wo steht der Computer als Arbeitsinstrument demnach für dich?
Der Computer ist für mich eine Art Spiegel. Er zeigt mir die Tragweite meiner kompositorischen Strategien. Natürlich kann ich das auch am Papier machen, nur würde ich da nicht bloß eine Nacht dafür brauchen, sondern mindestens eine Woche! Gewisse Arbeiten, die unkreativ und mechanisch sind, delegiere ich lieber an einen willfährigen „Ausführenden“, der jedenfalls kein Mensch ist.
Gibt es für dich eine unterschiedliche Herangehensweise bei instrumentalen oder elektronischen Kompositionen?
Nein. Ich habe immer gesagt: Ich komponiere elektronische Musik mit instrumentalen Mitteln. Da gibt es z. B. das Stück Rudiments (1989/90) für vier Schlagzeuger: Da schwirren Klangflächen fünfzehn Minuten lang durch den Raum, Klangsplitter gehen von einem zum anderen – das ist ganz „elektronisch“ gedacht, aber ausschließlich mit instrumentalen Mitteln umgesetzt.
Rudiments für vier im Raum verteilte kleine Trommeln (1989/90)
Les Guetteurs des Sons, Dir. Heinz-Karl Gruber
Released on Karlheinz Essl's CD Rudiments (1995)
Dies hat sich geändert, als ich Anfang der 1990er-Jahre am IRCAM in Paris war und dort zum ersten Mal mit computergestützter Klangsynthese zu tun hatte, die in Echtzeit klangliche Resultat lieferte. Da war ich einer von zwanzig Komponistinnen und Komponisten aus der ganzen Welt, die eingeladen waren, jeweils ein Stück für Ensemble und Live-Elektronik - es erhielt den Namen Entsagung - zu machen. Eine Offenbarung! – Ich bin sofort auf die Programmiersprache Max angesprungen, mit der ich meine Kompositionen in Echtzeit realisieren konnte: Da bekommt man klangliche Ergebnisse, auf die man unmittelbar reagieren kann. So wird die Elektronik zum Instrument, auf dem man live spielen kann.
Entsagung (1991-1993) für Flöte, Bassklarinette, präpariertes Klavier, Schlagzeug und Live-Elektronik
Klangforum Wien, Dir. Gerd Kühr
Released on Karlheinz Essl's CD Rudiments (1995)
Das knüpft an deine Zeiten als Interpret an.
Früher habe ich sehr viel „Musik gemacht“. Ich habe E-Gitarre gespielt, Jazz, hatte eine Rockband, habe in einer Gospelgruppe gesungen, und zuletzt – bevor ich den Kontrabass endgültig an den Nagel gehängt habe – hatte ich auch ein experimentelles Trio mit E-Gitarre, Schlagzeug und elektrischem Kontrabass: eine sehr interessante Band, mit der wir unheimlich kompliziert ausgehirnte Stücke spielten, mit vielen vertrackten Takt-, Rhythmus- und Tempowechseln. Die andere Schiene aber war: Wie spielen frei, wir improvisieren ohne jeglichen Vorgaben und schaffen unerhörte Musik aus dem Augenblock heraus. Als ich mich ernsthaft mit Komposition zu beschäftigen begann, habe ich damit aber aufgehört. Auch mein Lehrer Friedrich Cerha meinte damals, ich solle mich ausschließlich auf’s Komponieren konzentrieren...
Karlheinz Essl: Borderline (1985)
Neue Musikgruppe 1070 mit Alex Tuchacek (git), Florian Tuchacek (dr), Walter Fend (tp) und Karlheinz Essl (b)
Ein Rat, den du befolgt hast?
Ja! Ich habe den Kontrabass bereitwillig eingemottet und seitdem auch nicht mehr angerührt – und mich dann sehr befreit gefühlt. Mir ist nichts abgegangen. Aber irgendwann, nach zehn oder elf Jahren Komponieren im Elfenbeinturm kam dann eine massive Krise: Ich stellte mir die Frage nach der Sinnhaftigkeit meines einsamen Lebens als Komponist: Da bekomme ich einen Auftrag, schreibe ein halbes Jahr an einem Stück, das bei einem Festival gespielt wird – ein-, zweimal, vielleicht in fünf Jahren nochmals – das war’s. Früher, beim Musizieren, waren das andere, ganz unmittelbare Erlebnisse: Proben dreimal in der Woche, mindestens einmal im Monat ein Auftritt. Aber irgendwann bin ich bei der Entwicklung von Echtzeit-Algorithmen draufgekommen, dass ich ja eigentlich Instrumente baue, mit denen ich selbst Musik machen kann! Das war der Beginn meiner zweiten Karriere als Improvisator, wobei ich nicht mehr am Kontrabass oder an der E-Gitarre „g’hängt“ bin, sondern am Laptop. Mitte der 1990er Jahre war das noch absolut neu. Da gab es fast niemanden, der das auch machte. Zu dieser Zeit hat mir das musikalische Kennenlernen von Musikern live vor Publikum – was ich scherzhaft als „Blind Gigs“ bezeichne – unglaublich viel gegeben.
Hat das improvisatorische Auftreten für dich nach wie vor eine so zentrale Bedeutung?
Heute sehe ich das mehr als eine Art Hobby, das mir neue Möglichkeiten erschließt und mich beim Komponieren inspiriert. Beim Improvisieren können Dinge entstehen, die in der Komposition nicht möglich sind – und umgekehrt. Am liebsten bei der Improvisation ist mir die intime Duo-Situation. Das ist, wie wenn ein Mann und eine Frau sich gegenseitig etwas schenken...
Wenn du es auf den Punkt bringen müsstest, worin besteht das ganz Besondere der Live-Improvisation?
Die Unwiederholbarkeit ist eine Qualität! Ich denke etwa an eine Veranstaltung im Advent 2009, wo ich zum ersten Mal mit der Sopranistin Agnes Heginger im Essl Museum einen „Blind Gig“ veranstaltete. – Dieser Abend war magisch!
OUT OF THE BLUE: Agnes Heginger (Stimme) & Karlheinz Essl (Live-Elektronik)
Seitzersdorf-Wolfpassing, Atelier Johann Feilacher (A)
INTO THE BLUE
Parallel zu seiner schöpferischen Arbeit mit dem Computer kann Karlheinz Essl unter den zeitgenössischen Komponisten gleichermaßen als Internet-Pionier gelten. Bereits am IRCAM hatte er Anfang der 1990er-Jahre eine eigene e-Mail-Adresse. Aus der Erkenntnis, dass gedruckte Publikationen – wie Verlagswerbungen – kurz nach ihrem Erscheinen bereits veraltet sind, war für ihn auch rasch die Notwendigkeit der eigenen Website klar. Mit seiner Homepage ging er bereits 1993 online, wobei es ihn freut, dass die damals konzipierte Grundstruktur sich bis heute als anhaltend funktionierend erwiesen hat. Bemerkenswert: Essl, der nicht gerade an Zeitüberschuss zu leiden scheint, gestaltet nach wie vor seine Website zur Gänze selbst, als Work-in-progress. Die entscheidenden Pluspunkte eines solchen Auftritts?
Die Kontakte. Man schafft sich damit ein Netzwerk. Viele Projekte, auch viele Aufträge, Einladungen, Kooperationen haben sich nur durch das Internet ergeben. Auch die Software, die ich entwickle, stelle ich zum Download ins Netz: So wie meine Schüler damit arbeiten, sollen auch andere Leute damit arbeiten können. Dadurch hat sich eine Reihe von Verbindungen gegeben. Und die Konsequenz daraus war dann die Entscheidung, auch meine Partituren im Netz gratis anzubieten – dadurch beginnen die Stücke ein Eigenleben zu entfalten, unabhängig von Verlagsinteressen. So kommt es zu einer viel weiteren Verbreitung, und die Einnahmen entstehen über Tantiemen und Radiosendungen, aber nicht über das Papiergeschäft.
Ein interessantes Beispiel ist meine Lexikon-Sonate – mittlerweile ein Klassiker der algorithmischen Musik –, die ich früher als MIDI-Version verschenkt habe: Inzwischen bin ich aber draufgekommen, dass manche Leute eigene Stücke damit generiert haben. Das finde ich nicht richtig und daher habe ich das mittlerweile abgedreht: Ich möchte nicht, dass mein Stück, an dem ich mehr als zehn Jahre gearbeitet habe dafür missbraucht wird, damit Andere neue Stücke unter ihrem Namen daraus machen. Da gibt es einfach Grenzen.
Lexikon-Sonate (1992 ff.) performed by the composer on a Yamaha Disklavier
12 Jul 2016, NIME Conference 2016 (Brisbane, Australia)
Bedeutet das kostenlose „Verteilen“ von Notenmaterial im Internet in letzter Konsequenz nicht das Ende von Musikverlagen im herkömmlichen Sinn?
Die Zusammenarbeit mit einem Verlag liegt heute zum einen im Bereich der Materialherstellung, und da ist es sicher gerechtfertigt, wenn der Verlag dabei auch etwas verdient. Aber vor allem sehe ich den Verlag primär als Promotor – und da ist es eben die Frage, was ein Verlag auf dieser Ebene macht bzw. machen kann.
Zu kurz kommt im Gespräch diesmal die Rolle des Veranstalters Karlheinz Essl, in seinem Fall des Musikintendanten der Sammlung Essl (Essl: "Als Veranstalter bekenne ich mich zu meiner Subjektivität, aber ich versuche auch ein sehr breites Spektrum zu bieten.""). Weiters müsste man noch ausführlich auf die Lehrtätigkeit eingehen – seit 2007 ist Essl Professor für elektro-akustische und experimentelle Musik an der mdw - Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Auch wenn „50er“ in unseren Breiten in der Regel keine allzu ausufernden öffentlichen Feiern erfahren und sich das österreichische Konzertleben in Hinblick auf den am 15. August 2010 bevorstehenden Ehrentag von Karlheinz Essl „dezent“ zurückhält, so sei doch abschließend die journalistische Frage nach der Gefahr der „Midlife Crisis“ gestellt:
Meine „Midlife Crisis“ habe ich bereits mit 35 gehabt!
– sagt’s lachend und eilt neuesten Projekten entgegen…
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Updated: 10 Apr 2023