Dieses Buch K.O.P.F. funktioniert anders als man es von den meisten Büchern gewohnt ist. Es spielt mit der Wahrnehmung. Sie können es lesen, es anhören und es erleben, so als ob sie mitten im Geschehen wären. Wie geht das? Am besten, wir beginnen mit der Wahrnehmung…
Angenommen, Sie würden sich auf eine Parkbank setzen und eine Zeitlang nichts anderes tun, als konzentriert der Umgebung zu lauschen. Was würde geschehen?
Irgendwann würden sie beginnen, aus dem bunten Geräuschteppich einzelne Klänge herauszufiltern. Sie würden viel mehr hören als sonst, möglicherweise Klänge, die ihnen vorher im Park noch nie aufgefallen sind. Zum Beispiel das Geräusch, das entsteht, wenn ein Hund sich Wasser aus dem Fell schüttelt, das Scharren im Kies, wenn ein Kinderwagen durchgezogen wird, das Öffnen einer Dose in einer Runde picknickender Menschen – und obwohl sie vermutlich kein ornithologisches Studium abgeschlossen haben, könnten sie nach einiger Zeit die meisten Vogelstimmen voneinander unterscheiden. Überdies würden sie plötzlich darauf achten, aus welcher Richtung sich ein spezieller Klang nähert.
Würde man seine alltäglichen Routinen unterbrechen und in vertrauter Umgebung seinen Kopf bewusst zum Hören einsetzen, dann könnte man die Welt anders wahrnehmen und das Hören als immersives Erlebnis begreifen. Auf dieser Prämisse beruht die Klangarbeit H.E.A.D., die seit 2018 entsteht. Um Klangsituationen detailgetreu und exakt so, wie sie im Moment gehört werden, aufzuzeichnen, wird dafür ein sogenanntes Kunstkopf-Mikrofon verwendet. Im Unterschied zu einem herkömmlichen Stereomikrofon, das nur zwischen links und rechts differenziert, können mit dem Kunstkopf-Mikrofon alle Raumkomponenten dreidimensional erfasst werden. Der Unterschied beim Hören ist verblüffend, denn mit einem Mal kann man die exakte Richtung, aus der ein Klang sich nähert, plastisch wahrnehmen und dabei so tief in das Klanggeschehen eintauchen, dass man meint, selbst Teil der Szene zu sein.
Kunstkopf-Stereophonie
Mit der Kunstkopf-Stereophonie entstand im 20. Jahrhundert eine revolutionäre Aufnahmetechnik, die es ermöglichte, den Klang so aufzuzeichnen, wie ihn der Mensch tatsächlich wahrnimmt: aus allen Richtungen. Dafür wurde die Physiognomie des menschlichen Kopfes simuliert – vom exakten Abstand der Ohren bis zur Form der Ohrmuscheln – und mit Mikrofonen versehen. Die Grundlagen dieser Aufnahmetechnik reichen bis in die 1920er Jahre zurück; 1933 präsentierte General Electric den ersten „Kunstkopf“. Seit den 1970er Jahren wurde die binaurale Aufnahmetechnik erstmals in größerem Maßstab eingesetzt, häufig für Hörspiele, die dank ihrer hyperrealistischen Räumlichkeit die Hörer*innen in ihren Bann ziehen konnten.
Voraussetzung für ein dreidimensionales Klangerlebnis ist die Verwendung von Kopfhörern. Dies mag ein Grund gewesen sein, weshalb sich die Kunstkopf-Stereophonie lange Zeit nicht wirklich durchsetzen konnte. Ausgelöst durch das breite Interesse an plastischem 3D-Sound ("Dolby Surround") und den Boom bei Computerspielen und Internetmedien, die vorzugsweise mit Kopfhörern konsumiert werden, ist diese Aufnahme- und Produktionstechnik wieder stark im Kommen.
Die binauralen Soundscapes für die Klangarbeit H.E.A.D. wurden allerdings nicht mit einem klassischen Kunstkopf, sondern mit einem speziellen Headset aufgenommen, das an der Außenseite mit zwei unscheinbaren Mikrofonen bestückt ist. Als Aufnahmegerät dient ein Smartphone. Auf diese Weise ist es möglich, Klangaufnahmen praktisch überall, unauffällig und ohne größeren technischen Aufwand zu machen. Für eine Reihe von Orten – darunter etwa das Donaudelta in Rumänien – entstanden so jeweils vier Aufnahmen, die später von einer eigens programmierten Software mit Zufallsalgorithmen generativ abgemischt wurden. Weil die Kunstkopf-Stereophonie wesentlich mehr Informationen mit einbezieht, musste auch die Dokumentation der Aufnahmen exakter sein. Die Aufnahmeorte wurden mithilfe des Koordinatensystems what3words (w3w) erfasst sowie mit Fotos und kurzen Notizen zur Situation dokumentiert.
Die Arbeit K.O.P.F., welche in mehrjähriger Zusammenarbeit zwischen uns beiden entstand, leitet sich von H.E.A.D. ab und besteht aus acht Stücken. Die Ingredienzien sind wie bei H.E.A.D. Soundscapes, aufgenommen mit einem binauralen Mikrofon – hinzu kommen lyrische Texte, die beim Anhören der Soundscapes entstanden. Jedes Stück leitet sich von seinem Aufnahmeort ab, etwa dem Fluss Thaya, dem Donaudelta, der Stadt Graz oder dem Wiener Prater. Die Metadaten, die den dort aufgenommenen Soundscapes eingeschrieben sind, wurden frei in die lyrischen Texte übertragen – wodurch eine zweite Ebene entsteht, die auf das Gehörte reflektiert und weitere Informationen hinzufügt. Ein Schlüssel dafür ist das verwendete Koordinatensystem w3w. Es teilt die Erde in einen Raster aus 57 Billionen Quadraten von 3x3 Metern auf und schreibt jedem Quadrat eine Adresse aus drei zufällig gewählten Wörtern zu. Für jedes Stück von K.O.P.F. – das immer aus vier Aufnahmen besteht – ergeben sich demnach 12 Wörter. Diese im jeweiligen lyrischen Text zu verwenden machten wir zu einer Regel. Neben dem immersiven Hörerlebnis der Soundscapes und den Notizen, die bei der Aufnahme entstanden waren und Auskunft über Aufnahmezeit, Wetter und andere Details geben, bilden die Wortkoordinaten eine abstraktere Ebene. Anhand dieser Materialien und Informationen entstanden die Texte aufgrund eines virtuellen Erlebnisses ebenso wie nach festgesetzten Regeln.
Sprachaufnahmen
Da Soundscapes und Texte zunächst getrennt voneinander existierten, beschäftigten wir uns damit, sie zu einem gemeinsamen Ganzen zusammenzufügen. Wir entschieden uns, die Texte nicht in einem Tonstudio, sondern in der vertrauten Umgebung eines Arbeitszimmers aufzunehmen. In diesem Prozess recherchierten wir zu verschiedenen Phänomenen wie ASMR (Autonomous Sensory Meridian Response), das schließlich in das Aufnahmeverfahren der Stimme mit einfloss. Ebenso wie die meditative Aufnahme der Soundscapes wurde auch die Aufnahme der Stimme zu einem performativen Akt. Beide Klangebenen wurden anschließend neu zusammengesetzt und abgemischt. Sprache und Naturklang umkreisen einander nun wie Teilchen auf unterschiedlichen atomaren Bahnen und reagieren aufeinander. Zu hören sind die Stücke über die QR-Codes, die im Buch abgedruckt sind, oder mittels der beigelegten CD.
In K.O.P.F. geht es vornehmlich um Wahrnehmung. Verändert man nur wenige Parameter im Vergleich zum konventionellen Hören, dann eröffnet sich ein neues und weites Terrain für ungeahnte Erlebnisse. Expert*innen und Autoren haben – ausgehend von unserer Zusammenarbeit – ihre eigenen Überlegungen für dieses Buch weitergesponnen. Elisabeth Zimmermann, die über jahrzehntelange Kunstradio-Erfahrung verfügt, hat in einem Gespräch mit uns – das im Hörspielstudio des Radiokulturhauses Wien, einem der ersten Orte der Kunstkopf-Stereophonie, geführt wurde – eine Menge an Kontexten eingebracht. Der Computermusik-Experte Gerhard Eckel berichtet von seinen Erfahrungen mit binauralen Aufnahmetechniken und gibt überdies eine aufregende Episode seiner Klangwahrnehmung preis, die er einmal in Paris gemacht hat. Der Autor und Tänzer Udo Kawasser hat ein mehrstimmiges lyrisches Kolloquium verfasst, einen literarischen Remix der Klangarbeit, und eröffnet damit eine weitere Ebene des Projekts K.O.P.F. Der Musikwissenschaftler Julian Kämper und der Künstler Felix Kruis teilen ihre wissenschaftlichen Überlegungen zu 3D-Audioverfahren und haben die sounddramaturgischen Aspekte von K.O.P.F. analysiert.
Durch gemeinsames Experimentieren haben wir in K.O.P.F. einige immersive Klang- und Hörerlebnisse gestalten können. Dabei hat sich gezeigt, dass das Medium Buch dafür der richtige Container ist, weil es viele Ebenen gleichzeitig ermöglicht. Entstanden ist eine Arbeit, die neue Sichtweisen auf die Welt des Hörens geben kann, sowie ein Lese- und Erlebnisbuch mit einer Menge spannender Stimmen. In diesem Sinne empfehlen wir in Text und Sound zu versinken, die Kopfhörer aufzusetzen und abzutauchen!
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