Leonard Eröd
Warum Klassik? vom 23.10.2024 (Ausschnitt)
Meine Lieben, zum letzten Mal in dieser Staffel willkommen zurück. Für diese Folge gehen wir endlich in die Gegenwart und schauen uns an, wie heute Musik mit anderen Künsten in Verbindung tritt. Dazu habe ich mit noch zwei sehr spannenden Herren geredet. Der erste ist der Fotograf Sven Kristian Wolf, der schon vor zwei Wochen so schön über Bruckner geschwärmt hat. Den hab ich kennengelernt, weil er unser Orchester, das RSO, fotografiert hat. Und der andere ist Karlheinz Essl, ein... Komponist, ja, das ist aber zu kurz gegriffen, „Composer / Performer“ steht auf seiner Homepage – und ihr werdet bald erfahren, warum.
Wir kommen also zur Mathematik und damit zum Computer als künstlerisches Gestaltungsmittel. Ich persönlich mag Computer sehr gerne und hab einen Großteil meiner Teenager-Zeit damit verbracht. Ich kann also vieles recht gut nachvollziehen, was jetzt kommt und ich hoffe, ihr auch ein bisschen. Wenn man hört, ein Künstler arbeitet mit Computern, dann stellt man sich vielleicht so einen einsamen Nerd vor, der nie das Tageslicht sieht und sozial ein bisschen verkümmert ist. Bei Karlheinz Essl ist das nicht so. Aber bevor wir uns seinen Werdegang anschauen, erklärt er uns noch, warum man das mit den Proportionen und der Form bei Musik und anderen Künsten doch nicht so einfach 1:1 übertragen kann:
KHE: Die Musik, das ist das Besondere, die Musik ereignet sich in der Zeit. Also bei einem Buch kann ich ja vor und zurück blättern, [...] das geht in der Musik halt nicht. Also ich glaube, das ist das Besondere, dass die Musik uns eigentlich so mit unserer eigenen Sterblichkeit in Verbindung setzt, also mit dem Ablauf von Zeit, der auch dann letztlich final ist. Das ist beim Bild nicht, im Bild ist eher so was Meditatives. Natürlich tastet man es auch mit den Augen ab in dem zeitlichen Prozess, aber das Bild ist ein Objekt, mit dem ich mich beschäftige, und die Musik ist nur Prozess. Es geht weiter, es geht weiter, es geht weiter bis zum Finale.
KHE: In den 1970er, 80er Jahren war das eine ganz berühmte Persönlichkeit im deutschen Sprachraum. Ein Anonymus, der im Schutz der Dunkelheit nächtens in Großstädten wie Köln oder Basel ganze Zyklen von Sprayzeichnungen angefertigt hat. Das waren alles sehr schnell gezeichnete Figürchen, Männchen, vor allem auch Totengerippe, die er dann ganz speziell in diese Architektur der alten Gebäude eingepasst hat. Er wurde dann gefasst, eingesperrt. Sein Name ist Harald Naegeli, er lebt immer noch, ist Mitte 80. Und Josef Beuys hat sich für ihn eingesetzt und auch der damalige deutsche Bundeskanzler. Und er wurde dann freigelassen nach einigen Wochen in Haft.
Und diesen spannenden Herrn lernt der junge, frisch fertigstudierte Komponist Karlheinz Essl also 1988 kennen und kommt drauf: Das ist ja ein unglaublich gescheiter Mann, der in Paris Kunst studiert hat und richtig viel von Kunstgeschichte weiß.
KHE: Und dann sagt er zu mir, so ganz jovial, dazu muss man sagen, er ist Schweizer, „Karlheinz, wir müssen was zusammen machen.“ Und dann sage ich zu ihm. „Wie stellst du dir das vor? Du bist so ein Performance-Künstler, machst alles im Moment, im Augenblick. Und ich bin ein Schreibtischstädter, ich schreibe Partituren und schreibe für Instrumente. Sagt er, ja, das mag wohl sein, aber du musst dir was einfallen lassen. Ich möchte auf jeden Fall mit dir eine Performance machen, wo du die Musik dazu schreibst. Und das hat mich letztlich aus meinem Elfenbeinturm-Dasein als Komponist aufgeweckt. Und ich habe verstanden, es gibt noch andere Weisen, Musik zu komponieren oder Musik hervorzubringen, die nicht am Notenpapier entsteht. [...] Mit Naegeli war es mir klar, es muss eine Musik sein, die sozusagen reagiert auf das, was er da zeichnet.
Und die auch auf den Geräuschen basiert, die Naegeli beim sprühen macht:
KHE: Und dann war mir klar, das sind schon die musikalischen Elemente, die ich verwenden werde. [...] Die Spraydose macht "pf, pf, pff" und dann "rattatatatatap". Okay, dann habe ich gewusst, okay, ich brauche jetzt musikalische Spraydosen.
Und die Wahl der Instrumente fiel auf Flöte, Saxophon und Bassklarinette. Für die hat Essl graphisch notierte Einzelstimmen komponiert.
KHE: Die Notation entstand mit Hilfe eines von mir geschriebenen Computerprogramms, das diese graphischen Zeichen - Punkte, Striche, Flächen und Rhythmen nach bestimmten kompositorischen Vorstellungen miteinander kombiniert. [...] Und die Musiker bekommen drei unabhängige Stimmen, eine ganz genaue Angabe, wie das zu interpretieren ist, und auch einen Zeitrahmen, aber sie haben gewisse Freiheiten. [...] Und darauf hat der Naegeli reagiert und die Musiker haben wiederum auf ihn reagiert.
Das war also das Erweckungserlebnis, ich kann das gut nachvollziehen, dass man sich als Komponist ganz anders fühlt, wenn die Musik nicht einfach fix und fertig am Papier steht, sondern weiterlebt und sich mit jeder Aufführung verändern kann. Das Stück hat ihm so viel Spaß gemacht, dass er es dann auch für andere Besetzungen umgeschrieben hat, hier zum Beispiel die Version für Orgel und Stimme umgearbeitet hat:
Partikel-Bewegungen - Fassung für Orgel und Stimme
Wolfgang Kogert: Orgel, Anne Clare Hauf: Stimme
CD ORGANO/LOGICS, col legno 2023
KHE: Sie hat vorher schon einige Stücke von mir vertanzt, sozusagen Choreografien gemacht, und ich habe gesagt, nein, das möchte ich jetzt anders machen, du bist die Musikerin, du tanzt und erzeugst dabei die Klänge und die Geräusche. Und da hat sie erst gesagt, das geht ja gar nicht, ich kann das ja nicht. Jetzt sage ich: Ich mache etwas, was du auch kannst. Und dann haben wir mit ganz, ganz einfachen Instrumenten begonnen zu arbeiten.
Forms of Life - dance/sound/performance
Andrea Nagl: Tanz, Instrumente, Stimme
Markus Wintersberger: Objekte
Karlheinz Essl: Komposition, Live-Elektronik
Catherine Spet: Video
Das waren unter anderem eine sogenannte „Klangfeile“, also eine große Raspel aus Holz, oder eine Shruti-Box, das ist ein Instrument aus der indischen Musik, aber auch ganz einfach die Stimme der Tänzerin.
KHE: Und jetzt ist der Punkt der, dass diese Instrumente, sei es Stimme oder Shrutibox, oder diese Klangfeile, mit Mikrofonen abgenommen werden, und in ein Computerprogramm von mir eingespeist werden, wo sie dann verdichtet und verändert werden, und ich war dann sozusagen der zweite Musiker, der aus diesen Klängen, die die Tänzerin produziert hat während ihres Tanzens, daraus einen Sound gebaut habe.
KHE: Es gibt dieses berühmte Gemälde von Gustav Klimt, was die Familie Altmann besessen hat, eine jüdische Industriellenfamilie - Textilfabrikanten - die ihre Fabrik im 5. Bezirk hatten und die dann in der Nazi-Zeit enteignet worden sind. Und dieses berühmte Bild, dieses Gemälde der Adele Bloch-Bauer, ist dann in einem spektakulären Rechtsprozess vor mehr als 20 Jahren, durch den Enkelsohn von Arnold Schönberg, einem Rechtsanwalt, schließlich restituiert worden.
Ist das nicht großartig, wie mir in dieser letzten Folge alles zufliegt? Ausgerechnet der Enkel von Arnold Schönberg, ja, dem, der die Zwölftonmusik erfunden hat und der selbst als Jude emigrieren musste – und der sich übrigens auch als Maler versucht hat. Dessen Enkel also hat bei diesem Prozess gegen die Republik Österreich die Klägerseite vertreten und durchgesetzt, dass die Goldene Adele den rechtmä1igen Erben zurückgegeben wird. Aber was hat das mit Karlheinz Essl zu tun? Er wurde gebeten, zu diesem Thema eine Performance zu machen, und zwar genau im Gebäude der Textilfabrik der Altmanns im 5. Bezirk in Wien – Übrigens, nur um unser Spaziergangs-Thema noch ein letztes Mal aufzugreifen: Noch eine Spur weiter vom Zentrum entfernt als das Josefstadt-Theater.
KHE: Und ich habe dann aus einigen wenigen Fotos einen Film gemacht über Algorithmen, wo diese Bilder in Bewegung gesetzt worden sind und miteinander auch verschmelzen und sich verbinden in so einer Art alchemistischen Prozess, parallel dazu mit Sound. Das Ganze hieß FABRIC, also Gewebe, weil Textil und Fabric, weil Fabrik. Und da haben sich wirklich diese Klang- und Bildwelten auch miteinander schön verbunden.
FABRIC - sound/video/performance
Karlheinz Essl: Komposition, Live-Elektronik
Simon Essl: Live-Visuals
KHE: Ich baue mir zuerst ein Instrument, das ist eine ziemlich lange Arbeit, meistens dauert es eine Woche, bis ich dann ein neues Setting habe. [...] Und dann weiß ich sozusagen, was es da in diesem Instrument an Möglichkeiten gibt, an Grenzen. Und dann mache ich damit eine Improvisation, nehme da mehrere Versionen auf und bin aber so frei, dass ich sage, wenn es schief geht, dann lösche ich es einfach. [...] Und so entdecke ich dann Dinge, die mich, obwohl ich das zwei Jahre lang täglich mache oder fast täglich, ich habe noch nicht das Gefühl, dass ich da irgendwie an einem Plafond angelangt bin.
Und was finde ich daran jetzt wieder so toll? Dass die Trennung von Komponist und Interpret, von der wir in der vorigen Folge geredet haben, hier wieder aufgehoben ist. Dass Karlheinz Essl wie der Kapellmeister Kreisler selbst improvisiert und fantasiert, sogar auf einem selbst gebauten Instrument, anstatt nur im Kammerl etwas aufzuschreiben, woran sich dann Musikerinnen wie in den Romanen von Bernhard und Jelinek abarbeiten müssen.
KHE: Jetzt arbeite ich zwei Jahre damit, und jetzt habe ich vor einem Monat in der Jesuitenkirche, [...] eine 45-minütige Performance gemacht namens Verkündigung. Und zwar, ich habe wirklich wahnsinnig viel gearbeitet und sehr viel geprobt, aber nicht auf Reproduzierbarkeit, sondern einfach nur um Umgehen zu lernen. Und ich habe keinen Plan gehabt. Ich habe nur gewusst, wie ich beginne. Ich habe nicht gewusst, wie ich aufhöre.
Verkündigung, eine Performance in der Wiener Jesuitenkirche. Also wieder Religion. Aber nicht „Mein liturgischer Raum ist der Konzertsaal“ wie bei Messiaen, sondern die Verbindung von Konzert und Kirchenraum. Und dabei ist sogar... eine Art Kirchenmusik entstanden, wie sich im Nachhinein herausgestellt hat:
KHE: Und ich habe danach halt mein Stück mir nochmal genau angehört, analysiert, habe dann Zeitmarken gefunden, an denen sich irgendwas in der Musik strukturell ändert, und plötzlich sehe ich, das sind 22 Teile. [...] 22 Abschnitte, das entspricht dem hebräischen Alphabet, mit diesen Buchstaben von Aleph, Beta, Gimel bis Tau. Und so ist sozusagen die Verkündigung fast so wie der Psalm 119, der ja auch so funktioniert, dass jeder Buchstabe des hebräischen Alphabets mit acht Verszeilen sozusagen ausgedrückt wird. Also im Grunde ist das ein Alphabet des Lobpreises. Und sowas habe ich mit der Verkündigung gemacht. Allerdings jetzt nicht bewusst, indem ich mir das vorgenommen habe, sondern das hat sich dann erst im Nachhinein herausgestellt, wie ein Geschenk, dass dieses Stück, was ich gespielt habe, 22 verschiedene Formteile hat.
Verkündigung - sound performance
Karlheinz Essl: Modularsynthesizer
Ich will ja nix sagen, aber da haben wir jetzt nicht nur Religion, sondern sogar wieder das Element des Unbewussten, mit dem der Komponist gestaltet, ohne es selbst zu merken. Und weil das diese Staffel so schön abrundet, bekommt Karlheinz Essl auch das Schlusswort in dieser letzten Folge.
KHE: Es geht darum: Wie kann die Kunst, egal ob das Literatur ist oder Musik oder bildende Kunst, wie kann die in uns etwas zum Schwingen bringen, das uns wiederum eine Kraft gibt und eine Hoffnung gibt. Und das uns vielleicht in unserem Leben so weit verändert, dass wir mit unseren Mitmenschen vielleicht ein bisschen netter umgehen. Oder mehr Verständnis haben. Denn die Kunst zeigt uns ja oft, dass es halt nicht alles so einfach ist, wie wir uns das vorstellen. Sondern dass immer Dinge passieren, die nicht geplant sind, die wir uns nicht überlegt haben.
Home | Works | Sounds | Bibliography | Concerts |
Updated: 2 Nov 2024