Anmerkungen zum Klavierstück Con una certa espressione parlante
1985
Marginalia I
Im mythologischen Sinn ist die Sprache aus dem Klang entstanden, der als Natur- und Emotionslaut die Welt in ihrer begriffslosen Konkretheit abbildet. Durch sein In-Beziehung-Treten mit Kategorien menschlicher Erfahrung konstituiert er Zusammenhänge im Bewußtsein des Menschen, die dort als strukturiertes System von Zeichen in Erscheinung treten. Dadurch wird der Klang aus seiner Begriffslosigkeit auf das Niveau konkreter Wahrnehmung gehoben und gelangt somit kraft seiner geordneten und reflektierten Bedeutungsinhalte zur Sprache, zu der wesensmäßig auch das Bedeuten gehört. Umgekehrt aber läßt sich die Sprache in die Ebene des Klanges transzendieren, wobei sie sich ihres begrifflichen Charakters entledigt. So lassen sich nach Novalis Gedichte denken, "bloß wohlklingend und voll schöner Worte - aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang." Diese "wahre Poesie" kann höchstens "einen allegorischen Sinn im Großen haben und eine indirekte Wirkung wie Musik" [1]: - Klang-Sprache.
Diese Durchdringung von Klang und Sprache bildet die gedankliche und emotionale Achse von Con una certa espressione parlante (1985) für einen Pianisten und einen Tonbandspieler, wobei aus rein Klanglichem durch Interferenz mit historisch vertrauten Formulierungen sich rückbezüglich ein Sinnzusammenhang ergibt, der zunächst nur verschwommen - wie aus dem Nebel - wahrnehmbar wird. Die Zitierung geläufigen spätromantischen Tonmaterials verbindet sich in seiner Amalgamierung mit eher unkonkretem, abstrakten Klanggeschehen (siehe Partiturseite 1) zu einem Komplex disparater Zeichen, die aber in ihrer neuartigen Durchdringung ein Meta-Zeichen bilden, somit sinn- und bedeutungsstiftend werden und damit zur Sprache gelangen. Dieser Prozess erreicht dort seinen Höhepunkt, wo durch den gezielten Einsatz der Mittel der Gestus und Affekt der Sprache in seiner Nachbildung des Sprach-Klanges angenähert wird (siehe Partiturseite 8-9). Zuletzt wird auch die Sprache jeglichen konkreten Bedeutens entkleidet und tritt als reiner Emotionslaut körperlich in Erscheinung (siehe Partiturseite 13). Hier mußten die Grenzen des vorgegebenen Instrumentariums gesprengt werden; an dessen Stelle tritt nunmehr die nackte menschliche Stimme.
Die Realisierung von Kompositionen, die Instrumente und vorgefertigtes Klangmaterial vom Tonband verwenden ist dadurch gekennzeichnet, daß es zwischenden Musikern und dem Tonband nie zu einer wechselseitigen Kommunikation kommt. Zwar reagieren die Instrumentalisten auf die Klangebene des Tonbandes, diese aber ist vorgeformt und undynamisch und kann keinerlei Information von außen verarbeiten. Ein "Musizieren" aller beteiligten Spieler im herkömmlichen Sinn ist deshalb nicht möglich.
In Con una certa espressione parlante hingegen treten Pianist und Tonbandspieler als gleichberechtigte und gleichwertige Spielpartner auf. Zu diesem Zweck mußte das Tonband entsprechend modifiziert werden, um wie ein Musikinstrument gehandhabt werden zu können. Außerdem war die Entwicklung und Kultivierung gewisser "instrumentaler" Spieltechniken von Nöten. Es gibt hier kein vorgefertigtes Klangmaterial; in einer kammermusikalischen Situation sind beide Musiker in ständigem Informationsaustausch und reagieren beständig auf einander.
Die Wiedergabe des Tonbandgerätes erfolgt über einen auf den Resonanzboden des Klavieres strahlenden Lautsprecher. Dies bewirkt die Verschmelzung der beiden Klangquellen. Außerdem werden dadurch bestimmte Resonanzphänomene erzielt, die kompositorisch eingesetzt wurden.
Karlheinz Essl & Gerhard Eckel: Con una certa espressione parlante (1985)
Performed by Karlheinz Essl (piano) and Gerhard Eckel (tape recorder)
Vienna, Institut elektroakustische Musik (1985)
Marginalia III
Der Titel Con una certa espressione parlante (deutsch: "mit einem gewissen sprechenden Ausdruck") ist BeethovensBagatelle op. 33 / Nr. 6 entnommen uns spielt auf die sprachlichen Ausdrucksmittel an, die in der Komposition verwendet wurden. - Zunächst werden die unterschiedlichen Klangebenen des Klavieres (texturierte Klangkomplexe, Schlagzeugwirkungen, "normaler" Klavierklang an den Tasten) gesondert exponiert und treten im Verlauf des Werkes in immer dichtere Beziehungen. Das Moment der variativen Weiterentwicklung spielt dabei eine wesentliche Rolle. Das Tonband beschränkt sich in seiner Funktion zunächst auf die Speicherung bestimmter Klavierstrukturen. Diese werden zeitversetzt zugespielt und fungieren dabei als Erinnerungsmomente. Dadurch ergibt sich aber ein neues In-Beziehung-Treten unterschiedlicher Inhalte. Im Laufe des Stückes emanzipiert sich der Tonbandspieler immer mehr von seiner anfänglichen Zuspieltätigkeit, um schließlich solistisch in den Vordergrund zu treten (siehe Partiturseite 8-9). Danach - als Höhepunkt - agieren beide Musiker gemeinsam an und im Klavier (siehe Partiturseite 10). Reminiszenzen an vergangene Situationen beschließen die Komposition.
Ludwig van Beethoven: Bagatelle op. 33, No. 6 in D-Dur, T. 1-8
Anmerkungen
[1] "Erzählungen, ohne Zusammenhang, jedoch mit Assoziation, wie Träume, Gedichte - bloß wohlklingend und voll schöner Worte - aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang - höchstens einzelne Strophen verständlich - sie müssen wie lauter Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen sein. Höchstens kann wahre Poesie einen allegorischen Sinn im Großen haben und eine indirekte Wirkung wie Musik." - Novalis, Fragmente über Poesie (1798)
Dieses Zitat wird in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen (Frankfurt a. Main 1971, S. 176) paraphrasiert: "Man könnte sich Menschen denken, die etwas einer Sprache nicht ganz Unähnliches besäßen: Lautgebärden, ohne Wortschatz und Grammatik. ('Mit Zungen reden.')"