Sven Hinz
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Der Österreicher Karlheinz Essl hat 1992 seine eigene Rolle als Komponist radikal in Frage gestellt. Neben die bisherigen Alternativen Mimesis und Poiesis - Nachahmung oder Neuschöpfung - setzt er die Autopoiesis. Das Stück Lexikon-Sonate ist eine Auto-Komposition - sie realisiert sich selbst. Zu ihrer Verwirklichung bedarf es einer Reihe von Kompositionsalgorithmen, die von einer computergesteuerten Flügel in Klang umgesetzt werden. Es gibt spezielle Algorithmen für Espressivo-Melodien, Arpeggien oder Trillerfiguren. Der Generierungsprozess erfolgt entweder durch einen zufallsgesteuerten Automatismus oder wird durch Signale von außen beeinflußt. Zusätzlich lassen sich Ereignisdichte und Geschwindigkeit auf einer Benutzeroberfläche einstellen. Den Verlauf der Komposition und ihre Gestalt kann somit jeder mitbestimmen.
Die Idee der Lexikon-Sonate beruht auf einem Roman des österreichisch-slowakischen Autors Andreas Okopenko. Dessen Lexikon-Roman verfasste er 1968 als Folge hunderter kurzer Kapitel, die alphabetisch gereiht sind und in einer beliebigen Anordnung gelesen werden können.
Die Lexikon-Sonate scheint das logische Ende einer Entwicklung darzustellen, die mit der Genieästhetik des 19. Jahrhunderts ihren vorläufigen Höhepunkt erfahren hatte. Auf den autonomen Künstler folgt nun das autonome Kunstwerk, dessen Schöpfer nurmehr die Anfangsbedingungen definiert und sich sonst aus dem Entstehungsprozess zurückgezogen hat.(...)
in: Radiosendung E wie Elektronik, BR4 Klassik (15 Sep 2008)
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Updated: 6 Oct 2008