Karlheinz Essl / Bernhard Günther
Lecture on Realtime Composition
Karlheinz Essl talking to music students of the University of Montana
Essl Museum, Klosterneuburg/Vienna (10 Jun 2010)
Die erste Frage, die sich einer, der etwas aufschreiben will,
vorzulegen pflegt, ist die: was soll ich aufschreiben.
In vielen Fällen kann diese Frage durch bloßes Nachdenken geklärt werden.
Ror Wolf
Betrachtet man die Geschichte der mitteleuropäischen Kunstmusik unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung musikalischer Notation, läßt sich über weite Strecken ein stetig erscheinender Prozess der Verfeinerung nachzeichnen. Beginnend bei vagen Gedächtnisstützen wie den Neumen, wird durch Einführung eines Liniensystems zunächst die diastematische Komponente - also die Tonhöhe - erfaßt, während sich die exakte Notierung der rhythmischen Verhältnisse erst später herausbildet. Schließlich wird neben Phrasierung und Agogik auch die Dynamik im Notentext fixiert, bis schließlich mit dem minutiösen Aufschreiben instrumententypischer Spielweisen die Grenzen des für Interpreten Nachvollziehbaren erreicht (und zum Teil bereits bewußt überschritten) werden.
Diese Entwicklung des Aufschreibens spiegelt den allmählichen Verlust von Selbstverständlichkeiten wider: Je weniger in der Musik von einem "common sense" die Rede sein kann, je stärker sich die Komponierenden als Individuen zu Wort melden (was schon an Monteverdis genauen Instrumentationsanweisungen erkennbar zu werden beginnt), desto größer scheint die Notwendigkeit einer eindeutigen, präzisen Notation - und um so mehr wird sie durch das Diffundieren einer voraussetzbaren Syntax zugleich wieder unterlaufen.
Schrift wird hier (auf sehr europäische Weise) eingesetzt als Code für die Intention des Individuums, als Mittel gegen Verwässerung und Vergessen. Das Eindeutige, Ablesbare, Gesetzhafte [1] wird der Kunst mit nahezu muttersprachlich-unauffälliger Selbstverständlichkeit zugrundegelegt.
Selbst Kompositionen, die mit Gesetzmäßigkeiten nicht das geringste zu tun haben wollen, benutzen einen TEXT (der rein und ohne Verfälschungen sein muß - man denke an die Notwendigkeit sog. kritischer Werkausgaben und Urtexteditionen) als Ausgangspunkt für eine INTERPRETATION. Hermeneutische Probleme haften an der Musik wie an kaum einer zweiten Kunst.
Und selbst fixierte TEXTE sind weder eindeutig noch linear zu lesen: sie können - nach Derrida - ausschließlich in ihrem jeweiligen Kontext verstanden werden, ihre Bedeutung verändert sich mit jeder Lektüre oder Interpretation. Das Einzelelement für sich hat noch keine Bedeutung, erst im Zusammenhang und durch die Wahrnehmungsarbeit des Rezipienten entsteht der "Sinn" - als ein möglicher Weg.
Abseits von solchen Entwicklungen des schriftlichen Fixierens existiert seit Jahrzehnten Musik, die sich nicht primär auf Notentexte gründet. Neben außereuropäischer und traditioneller Musik basieren auch Spielformen der experimentellen, improvisierten und elektronischen Musik auf gänzlich anderen Vorstellungen von Schrift als den oben angedeuteten. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es beispielsweise in New York Morton Feldman, John Cage und Earle Brown, in Wien Roman Haubenstock-Ramati und Anestis Logothetis, die versuchten, eine musikalische Idee aufzuschreiben, ohne sie fixieren zu wollen; hier mag teilweise ein aus der jüdischen Tradition kommendes Schriftverständnis dem geläufigen Positivismus eine Alternative gegenübergestellt haben. (Nebenbei: Auch aus dem Bereich der Tonbandmusik sind unkonventionelle Realisationspartituren überliefert; durch das Überspringen der Interpretation spielt diese Form der Schriftlichkeit allerdings in einer anderen Liga.)
Im folgenden Text ist von Musik die Rede, die - mal mit, mal ohne Interpreten - im Computer notiert ist und nicht als identisches Abbild einer kompositorischen Intention konzipiert ist. Ähnliches gilt auch für den vorliegenden Text. Er entstand aus einer losen Folge von E-Mails zwischen Hörer/Leser (Bernhard Günther) und Komponist (Karlheinz Essl), die als Frage, Antwort, Kommentar, Behauptung, Fußnote, Einwand, Erläuterung oder was auch immer ineinandergreifen und deren quasi-lineare "Notation" auf den Seiten einer Zeitschrift nur eine der möglichen Ausprägungen dieser Auseinandersetzung zeigen. Die Autorschaften verschwimmen durch wechselseitige "Überschreibungen". Fragen bleiben offen, geraten aus dem Blickfeld oder werden durch - linear, nicht entstehungszeitlich gelesen - plötzlich vorgeschobene Antworten obsolet; auch in der "Druckfassung" sind nicht alle dieser Textschnitte verheilt. Anfänge und Enden, Abfolgen und Einschübe sind lesbar, aber nicht festgeschrieben.
Definition "Realtime Composition": Musik, die auf keinen Notentext zurückzuführen ist, an keine Dauer gebunden ist, nicht reproduzierbar ist und mit Hilfe von Computerprogrammen in Echtzeit hervorgebracht wird. Anstelle von vorgefertigten Objekten, die abgespielt oder mobile-artig miteinander kombiniert werden, treten hier fluide Prozesse, die in vielfältiger Beziehung miteinander stehen: sogenannte Strukturgeneratoren, die aufgrund eines implementierten Modells unzählige Varianten einer nur abstrakt beschreibbaren Meta-Struktur erzeugen können. Die Parameter der Strukturgeneratoren lassen sich in Echtzeit manipulieren, wodurch interaktiv in den Generierungsprozess eingegriffen werden kann. |
BG: Wenn von einer Eingriffsmöglichkeit in den "Generierungsprozess" die Rede ist, klingt das - etwas abstrakt gelesen - nach einer Verschiebung der Verhältnisse zwischen Komponisten und klanglichem Ergebnis; weniger abstrakt gelesen klingt das nach einem Thema, mit dem auch Haubenstock-Ramati konfrontiert war. Ich zitiere: "Es gibt keine Improvisation; es gibt nur Interpretation. Das einzige, was man als ,Improvisation' bezeichnen könnte, ist die Komposition: die Niederschrift einer neuen Musik."[2] Ließen sich die klanglichen und strukturellen Ergebnisse der Realtime Compositions auch auf anderem Wege realisieren? Andersherum gefragt - unter Berücksichtigung wiederum von Haubenstocks Überzeugung, daß die Form der Notation der Form der Komposition entspricht: Was wären formale Eigenheiten der Realtime Compositions, die sich auf anderem Wege nicht erreichen ließen?
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Beispielseite aus Champ d'Action (1998)
BG: Hier liegt einerseits, wie auch der Lexikon-Sonate und Amazing Maze, eine "programmatische" (quasi "grammatische") Schriftlichkeit zugrunde (als source code des MAX-Programmes bzw. als JavaScript-Files für den Internet-Browser). Das Stück entstand aber im Auftrag des belgischen Ensembles "Champ d'Action", und hier waren zum ersten Mal Musiker als Interpreten vorgesehen, die via Bildschirm grafische Instruktionen zum Spielen erhalten. Welche formalen Besonderheiten gehen für Dich als Komponist mit dieser Notationsweise einher?
KHE: Im Unterschied zur Lexikon-Sonate werden in diesem Stück keine direkten Spielanweisungen für ein elektro-mechanisches Klavier generiert (welche Taste zu welcher Zeit wie stark angeschlagen und wie lange gehalten wird), sondern Strukturtypen vorgegeben, die von den Spielern realisiert werden. Der prinzipielle Ablauf aber ist in beiden Fällen gleich: ein mittels Programmcode genau definiertes Strukturmodell wird - im Moment der Aufführung, also in Echtzeit - realisiert; bei der Lexikon-Sonate durch den Computer selbst, bei Champ d'Action hingegen durch Instrumentalisten.
Hier habe ich buchstäblich ein "Aktionsfeld" geschaffen, indem sich die Musiker aufgrund eines Regelsystems bewegen, miteinander in Beziehung treten und gemeinsam zu neuen musikalischen Ausdrucksformen gelangen können, die - im Detail ungeplant - sich spontan im Moment des Zusammenspiels ergeben.
BG: Wie ist das Verhältnis zu grafischen Blättern, die dem Interpreten zur Mehrdeutung vorgelegt werden?
KHE: Der wesentlichste Unterschied ist, daß diese "Blätter" in Echtzeit erzeugt werden und ich deren Generierung direkt beeinflussen kann. Die Musiker können während der Aufführung von mir über einen zentralen Steuercomputer gezielt ein- und ausschaltet werden: dadurch läßt sich die formale Entwicklung des Stückes - im Moment seiner Aufführung - beeinflussen. Dies läßt sich mit vorgefertigten graphischen Notationen natürlich nicht bewerkstelligen.
BG: Warum hast Du diese Form der Notation gewählt? Wie kam es zu der Kombination von (quasi digital zu lesenden) beschrifteten Kästchen? Worauf basiert die Auswahl und Einteilung der Parameter?
KHE: Dem Stück liegen 8 unterschiedliche Strukturtypen mit charakteristischen Eigenschaften zugrunde, deren Parameterwerte im Verlauf des Stückes mittels stochastischer und serieller Operationen näher bestimmt werden. Diese Spielmodelle können als graphische Umsetzungen von Strukturgeneratoren verstanden werden, wie sie bei der Lexikon-Sonate und bei Amazing Maze auftreten, aber auch meiner Instrumentalmusik als syntaktische Modelle zugrunde liegen.
Das obige Beispiel zeigt eine Struktur namens POINTS; sie besteht hier aus der alternierenden Abfolge von Phrasen kurzer Dauer (= zwischen 1 und 4 Sekunden) und langen Pausen (= zwischen 4 und 16 Sekunden). Diese beiden Parameter bezeichnen die grobe zeitliche Strukturierung. In den folgenden beiden Feldern wird das Klangmaterial näher definiert: geräuschhafte Klänge im mittleren Register. Darunter finden sich spezifische Anweisungen für den Strukturtyp POINTS: die Phrasen bestehen aus kurzen, "punktartigen" Klängen, die hier in zwei Formen auftreten können: als "pre" (= kurze Vorschlagsfiguren mit Crescendo zu dem eigentlichen Punktklang) und "ord" (= Staccato). Der letzte "periodicity"-Parameter regelt zuletzt die rhythmische Binnenstruktur einer Phrase und bestimmt den Grad von rhythmischer Regelmäßigkeit zwischen den Extremen 5 (= "völlig periodisch" = konstante Pulsation) und 1 (= "völlig irreguläre Rhythmik).
Die Hauptarbeit bei den Einzelproben bestand nun darin, mit den Musikern Spielweisen für ihre Instrumente zu erarbeiten, da die Notation auf instrumentenspezifische Merkmale keine Rücksicht nimmt. Deshalb ist sie auch gewissermaßen "abstrakt" und muß erst eingelöst werden, wobei nicht nur die Besonderheiten des Instrumentes, sondern auch die individuellen Fähigkeiten des Musikers in die klingende Interpretation eingehen.
BG: Die einzelnen Bildschirmanweisungen muten konkreter, strenger an. Ergibt sich die Fluidität erst aus dem Miteinander, während die Computervorgabe der von den Musikern zu produzierenden Einzelereignisse jeweils ein möglichst geringes Maß an Beliebigkeit erzielt?
KHE: Der Musiker spielt eine Struktur - in der vorgegebenen Alternierung von Phrase und Pause - solange, bis am Bildschirm ein Fermatensymbol erscheint. Obwohl die Strukturen klar definiert sind, erlauben sie dennoch einen gewissen Spielraum für den Interpreten, vor allem im Bereich der Dynamik, die nicht näher bestimmt wird. Außerdem kann eine Struktur auf verschiedene Arten gespielt werden, deren Auswahl dem Musiker freigestellt ist, wobei der momentane Klangzustand des Ensembles die Entscheidungen mit beeinflußt: will ich mich in homogener Weise einfügen oder als Störfaktor in Erscheinung treten? usw.
BG: Welche Konsequenzen bringt aus Deiner Sicht das Lesen der "Instrumentalstimme" vom Bildschirm für die Musizierenden?
KHE: Diese sind jetzt nicht mehr bloß Exekutoren eines vorgegebenen Textes, der - reproduktiv - interpretiert wird, sondern gleichsam Mitschöpfer an einem Prozess, der nicht im Voraus geplant werden kann und seine unmittelbare Energie aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher musikalischer Kraftfelder bezieht. Auf der anderen Seite bieten die auf den Bildschirm projizierten Spielanweisungen klare Angaben über das, was gespielt werden soll: Hinweise, die von den Musikern kreativ und durchaus in Zusammenhang mit ihrer individuellen Persönlichkeit eingelöst werden sollen. Nicht als Annäherung an eine einzige "ideale" Form der Umsetzung, sondern als die momentane (Er)findung einer Lösung, die im Gesamtkontext sinnvoll ist und durchaus Platz für Spontaneität und Intuition zuläßt; die geradezu erwünscht sind. Dadurch entsteht auch eine neue Art des Musizierens im Spannungsfeld von Improvisation, Komposition und Reproduktion.
BG: Um von den interpretatorischen Spielräumen einer Mahler-Symphonie mal ganz zu schweigen: Wofür stehen hier Formulierungen wie "Prozess", "sinnvolle Lösung" und "Gesamtkontext"?
KHE: Im Unterschied zur Cage'schen Auffassung, dass jeder Musiker seinen Notentext ohne Bezugnahme auf andere zu realisieren hat, steht hier die explizite Aufforderung, die durch die Spielanweisungen angegebenen Klangstrukturen in das sich ergebende Ganze (den "Gesamtkontext") "sinnvoll" zu integrieren. Dies kann auf vielfältigste Art erfolgen, kann auch Desintegration oder Störung beinhalten, sollte aber in jedem Falle so angelegt werden, dass für einen selbst wie auch die anderen stets weitere Wege offen bleiben. Ganz im Sinne Heinz von Försters: "Handle stets so, daß weitere Möglichkeiten entstehen." [3]
BG: Ich weiß, daß Du in "auskomponierten" Stücken intensiv am klingenden Ergebnis, an klanglichen Details feilst, also durchaus an das Hören denkst. Es war hier, im Zusammenhang mit den Realtime Compositions, viel vom Verhältnis zwischen Komponist und Musiker die Rede. Was ist mit den Zuhörenden? Werden die konzeptuellen Eigenheiten der Realtime Compositions schon beim einmaligen Hören wahrnehmbar oder erschließen sie sich erst bei längerer Beschäftigung mit dem Gedankenmodell?
KHE: Ob es sich nun um auskomponierte WERKE oder offene PROZESSE handelt: das dahinterstehende Gedankenmodell dient zur Hervorbringung einer ungehörten Musik, zur Realisierung einer kompositorischen Idee (auch wenn sich diese in nicht-eindeutiger Weise auf unterschiedlichste Art darstellen läßt). Deshalb glaube ich, dass das Wissen darum für den Hörer nicht unbedingt nötig ist. Die Stücke sollten deshalb sinnlich, also ganz im Bereich des Klanglichen, rezipiert werden. In beiden Fällen gehe ich jedoch vom Hören aus: die Strukturgeneratoren (ob sie nun die Lexikon-Sonate, Amazing Maze oder Champ d'Action betreffen) gehen immer von Wahrnehmungsphänomenen aus, niemals von abstrakten oder gar mathematischen Prämissen. Deshalb meine ich auch, dass sich meine Musik am besten durch offenes, bereitwilliges und vorbehaltloses Hören erschließt, in einem aktiven Wahrnehmungsprozess, in dem sich der Hörer aufgrund seiner jeweiligen persönlichen Voraussetzungen sozusagen seine eigene Fassung der Komposition mitkomponiert. Hören wird hier nicht zum bloßen Abbilden und Entziffern einer vorgegebenen Wirklichkeit, sondern zu einer schöpferischen Konstruktion.
[2] Haubenstock-Ramati, Roman: Musik - Grafik. Pre-Texte. Wien: Ariadne, 1980. - S. 8. Vgl. auch ders.:"Notation: Material und Form", in: Notation Neuer Musik. - Mainz: Schott, 1965 (Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Bd. 9)
[3] Heinz von Foerster, Das Konstruieren einer Wirklichkeit; in: Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben. Beiträge zum Konstruktivismus, hrsg. und kommentiert von Paul Watzlawick (München 1985), S. 40
Erschienen in der Zeitschrift Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, hrsg. von Gisela Nauck, No. 36 "Schrift(lichkeit)" (Berlin 1998), S. 4-9. - ISSN: 0941-4711.
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Updated: 31 May 2019