Studien zum Musikdenken des späten Webern unter besonderer Berücksichtigung seiner eigenhändigen Analysen von op. 28 und op. 30.
(= Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft, vol. 24) Tutzing: Hans Schneider, 1991. [256 p. ISBN 3-7952-0675-8].
Die vorliegende musikwissenschaftliche Dissertation (1989 eingereicht an der Universität Wien) stellt sich die Aufgabe, Kompositionen aus Weberns Spätwerk, die oftmals Anlass zu allerlei Spekulation gegeben hatten - unter jenem Aspekt zu betrachten, den Webern selbst als zentrales Anliegen seines Komponierens in den Vordergrund gestellt hat: den der Synthese von horizontaler und vertikaler Darstellung. Erster Beweggrund war meine Beschäftigung mit Weberns Musik während meines Kompositionsstudiums bei Friedrich Cerha. Mich interessierte damals vor allem die Bedingungen, unter denen Weberns Musik entstanden ist, und ihre krasse Missdeutung durch eine spätere Generation. Diese - vom historischen Standpunkt gesehene - offensichtliche Fehlinterpretation hat sich dennoch als fruchtbar erwiesen: denn gerade diejenigen, die Webern als Apologeten ihrer eigenen Kompositionstechnik aufs Tapet brachten, waren es, die die weitere Entwicklung der Musik am radikalsten vorwärtsgetrieben haben. Ihre Sichtweise wurde jedoch von Seiten derer, die Webern noch persönlich gekannt hatten, gar Freunde oder Schüler von ihm gewesen waren, am heftigsten angegriffen.
Dieser Streit zwischen beiden Lagern beherrschte lange Zeit die Auseinandersetzung mit Webern und ist noch keineswegs beigelegt. Auffällig dabei ist, dass zwar immer wieder auf Weberns Traditionsbezogenheit hingewiesen wurde, es aber kaum Analysen Webernscher Musik gibt, die ihren Ansatz in Weberns Denken selbst genommen hätten. Die Ausnahme bilden zwei kurze Aufsätze von Leopold Spinner über Weberns Konzert op. 24 und die II. Kantate op. 31 (1), die sich bis ins letzte Detail der musikalischen Terminologie Weberns bedienen. Doch wurden diese Arbeiten bislang kaum gewürdigt. Friedhelm Döhl, der in seiner Dissertation über Weberns Beitrag zur Stilwende in der Neuen Musik (2) die historischen Wurzeln und Bedingungen von Weberns Komponieren minuziös darzustellen bemüht ist, und der darin erstmals dessen eigene Analyse des Streichquartetts op. 28 mitgeteilt hatte, wertet Weberns Kommentare zu seinen eigenen Werken schlichtweg zu missverständlichen "Erklärungsversuchen" ab (3). Wolfgang Martin Stroh wiederum hat in seiner ideologiekritischen Arbeit über Webern versucht, dessen intendierte Synthese von Scherzo- und Fugenform im II. Satz von op. 28 nachzuvollziehen. Er gelangt zu dem Schluss, dass Weberns Terminologie mit Absicht ungenau sei, um sie in den Dienst der historischen Legitimation zu stellen und geht gar soweit, sie als "Fehlleistung" im Sinne Freuds zu degradieren (4). Zu diesem marxistisch-psychoanalytischen Erklärungsmodell gesellt sich noch ein goethianisch-anthroposophisches: Angelika Abels Dissertation möchte aufzeigen, dass Weberns Komponieren an ein naturphilosophisches Denken gekoppelt war, das seine Prinzipien aus der Methodik von Goethes Farbenlehre bezog (5).
Generell scheint Misstrauen gegenüber Weberns Verwendung traditioneller musiktheoretischer Termini zu herrschen. Weberns Denkmodelle wie "horizontale und vertikale Darstellung", "musikalischer Raum" und "Synthese" wurden von den verschiedensten Autoren gemäß ihrer jeweiligen weltanschaulichen Position interpretiert. Dabei wurde aber meist verabsäumt, zuerst die Bedeutungen dieser Ausdrücke philologisch zu untersuchen, ehe man zu Aussagen oder gar Wertung gelangt. Um die Klärung der oben angeführten Begriffe hat sich zuerst Regina Busch (6) verdient gemacht, der ich dadurch den Ausgangspunkt meiner Arbeit verdanke.
Vorliegende Arbeit soll als Versuch verstanden werden, ein wenig Klarheit in die Verwirrung um Webern zu bringen. Die Voraussetzung dafür war, das Wagnis zu unternehmen, sich auf Webern "einzulassen" und sich seine Denkstrukturen anzueignen. Deshalb war es auch nötig, authentisches Quellenmaterial, soweit verfügbar, auszuwerten. Es handelt sich dabei neben den 1960 publizierten Webern-Vorträgen (7) auch um seine brieflichen Äußerungen (8), die nur fragmentarisch und über eine Unzahl von Publikationen verstreut vorliegen. Durch Einsichtnahme in den Webern-Nachlass, der sich seit wenigen Jahren in den Beständen der Paul-Sacher-Stiftung (Basel) befindet und damit erstmals öffentlich zugänglich gemacht wurde, war es möglich, bisher unveröffentlichtes Material heranzuziehen. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse konnten dann bei der Analyse der Opera 28 und 30, zu denen Webern ausführliche analytische Kommentare beigesteuert hatte, angewendet und verifiziert werden.
Die Dissertation gliedert sich in drei Teile. Im ersten wird der Versuch unternommen, Weberns Denkkategorien, die sich um seine Vorstellung von Synthese ranken, zu untersuchen. Dabei wird Weberns Bezugnahme auf Goethes Idee der Urpflanze besonders gewürdigt; war es doch möglich, im Nachlass Weberns dessen eigenes Exemplar der Goetheschen Farbenlehre ausfindig zu machen, das Webern mit Unterstreichungen versehen hatte. - Diesen Begriffsabklärungen wird eine zusammenfassende Betrachtung über die Webern-Rezeption gegenübergestellt, um zu untersuchen, wie weit Weberns eigene Ideenwelt mit der seiner Exegeten kompatibel ist.
Der daran anschließende Diskurs bemüht sich um eine Klärung von Weberns Verhältnis zur musikalischen Tradition und stellt die Frage, welche historischen Konzepte Webern vorgefunden hatte, und in welcher Weise sie von ihm für sein eigene Komponieren umfunktioniert werden mussten. In den Kapiteln über Beethoven, Bach und die Niederländer wird Weberns konkrete Bezugnahme auf diese Komponisten, vor allem unter dem Aspekt der "Synthese", dargestellt. Dort werden auch jene Werke, die sich Webern in Hinblick auf sein Synthese-Denken bezogen hatte, - möglichst Weberns eigenen analytischen Hinweisen folgend - untersucht.
Im dritten Teil werden die Ecksätze von Weberns Streichquartett op, 28 und seine Orchestervariationen op. 30 einer eingehenden analytischen Betrachtung unterzogen, wobei an den Kompositionen selbst dargestellt wird, wir Webern die beabsichtigte "Synthese von horizontaler und vertikaler Darstellung" zu verwirklichen suchte. Da zu diesen beiden Werken Analysen von Weberns Hand vorliegen - die ausführlichsten, die er je über eigene Kompositionen verfasst hatte - orientieren sich die Untersuchungen an den dort gemachten Angaben. Zur Verifizierung von Weberns analytischen Hinweisen wurden neben Schönbergs Grundlagen der musikalischen Komposition (9) auch die Formenlehre des Webern-Schülers Erwin Ratz (10) zu Rate gezogen.
Der Anhang bringt zur Klärung von Weberns Goethe-Bezug eine Wiedergabe jener Stellen, die Webern sich in seinem Exemplar der Farbenlehre angestrichen hatte. Daneben findet sich dort auch meine Rekonstruktion der kompositorischen Grundstruktur der Orchestervariationen op. 30, mit deren Hilfe sich die Analyse des Werkes einfacher und plastischer nachvollziehen lässt.
Die Unterteilung dieser Abhandlung in drei getrennte Bereiche entspringt der Forderung nach wissenschaftlicher Klarheit, Fasslichkeit und Überschaubarkeit. Diese Gliederung erscheint aber nicht unproblematisch, da die drei Hauptteile sich inhaltlich durchdringen und ständig Bezug aufeinander nehmen. Eine lineare Lesart täuscht deshalb eine teleologische Tendenz vor, die de facto nicht existiert. Der Text sollte eher als Organismus aufgefasst werden, in dem sich zwar individuelle Teile ausprägen, die aber in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen. Mit sparsam angebrachten Querverweisen soll dem Leser die Möglichkeit geboten werden, sich durch die Netzstruktur dieser Arbeit zu lesen.
Wien, im Juni 1988
(1) Leopold Spinner, Analyse einer Periode - Konzert für 9 Instrumente, op. 24, ". Satz; in: die reihe. Informationen über serielle Musik, hrsg. von H. Eimert, Heft 2: Anton Webern (Wien 1955)
(2) Friedhelm Döhl, Webern. Weberns Beitrag zur Stilwende in der Neuen Musik. Studien über Voraussetzungen, Technik und Ästhetik der Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen, Berliner musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd, 12 (München und Salzburg 1976)
(3) Friedhelm Döhl, Zum Formbegriff Weberns. Weberns Analyse des Streichquartetts op. 28 nebst einigen Bemerkungen zu Weberns Analyse eigener Werke; in: ÖMZ 1972, S. 131 ff.
(4) Wolfgang Martin Stroh, Anton Webern. Historische Legitimation als kompositorisches Problem, Göppinger Akademische Beiträge, Bd. 63 (Göppingen 1973)
(5) Angelika Abel, Die Zwölftontechnik Weberns und Goethes Methodik der Farbenlehre. Zur Kompositionstheorie und Ästhetik der Neuen Wiener Schule, Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 19 (Wiesbaden 1982)
(6) Regina Busch, Über die horizontale und vertikale Darstellung musikalischer Gedanken und den musikalischen Raum; in: Musik-Konzepte Sonderband Anton Webern I, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (München 1983), S. 225 ff.
(7) Anton Webern, Der Weg zur Neuen Musik, hrsg. von Will Reich (Wien 1960)
(8) Vor allem die Briefe an Hildegard Jone und Josef Humplik, hrsg. von Josef Polnauer (Wien 1959) (...)
(9) Arnold Schönberg, Grundlagen der musikalischen Komposition, hrsg. von Rudolph Stephan, ins Deutsche übertragen von Rudolf Kolisch (Wien 1979)
(10) Erwin Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre. Über Formprinzipien in den Inventionen und Fugen J. S. Bachs und ihre Bedeutung für die Kompositionstechnik Beethovens (Wien 1973/3)
In this dissertation I tried to investigate the compositional thinking of the late Webern, whose goal was to achieve a synthesis between "horizontal" and "vertical" representation ["Darstellung"] of musical thoughts. According to Webern, these are the elementary principles of musical composition which incarnate themselves in the sonata principle of Beethoven and in the fugue principle of J. S. Bach. In his late dodecaphonic work, Webern tried to achieve a new synthesis of these two topics, as he tried to demonstrate in his own analysis of the string quartet op. 28 and the orchestra variations op. 30.Weberns musical thinking was strongly influenced by Goethe's Farbenlehre and his concept of "Urpflanze"; it is shown how Webern took quotations of Goethe's scriptures to legitimate his own goals. Also the evident relationship to August Halms book "Von zwei Kulturen der Musik" (1913) and to the organism law of his teacher Guido Adler is discussed as well as Weberns relationship to musical history.
Thanks to the Paul Sacher Foundation (Basel, Switzerland) it was possible to include unpublished material from the Webern Estate.
Part I - Categories of Webern's Musical Thinking
- Organism Law
- Webern and Goethe's "Urpflanze"
- "Synthesis between horizontal and vertical representation"
- "Serial" and "traditional" reception of Webern
Part II - Webern and the Musical Tradition
- Webern and Beethoven
- Webern and Bach
- Webern and the "Old Flemish Masters"
Part III - Webern Analysis
- Synthesis in op. 28/I
- Synthesis in op. 28/III
- Synthesis in op. 30
12. Dezember 1983: Begegnung mit Anton Webern
Der Musikprofessor und Komponist experimenteller Musik berichtet von dem Tag, an dem er Anton Webern begegnete.Als Claudio Abbado am 12. Dezember 1983 Anton Weberns Orchesterstücke op. 6 mit dem London Symphony Orchestra im Wiener Konzerthaus aufführte, hatte ich meine erste Begegnung mit seiner Musik. Wie ein Blitz hat sie mich getroffen und ein wahres Damaskuserlebnis ausgelöst. Ich hatte damals gerade mein Kompositionsstudium bei Friedrich Cerha begonnen, interessierte ich mich aber vornehmlich für Alte Musik und war besessen von kontrapunktischen Künsten. Der Neuen Musik stand ich eher ablehnend gegenüber, und von Computern und Elektronik wollte ich schon gar nichts wissen. Weberns Musik in ihrer konzentrierten, sinnlichen Klarheit hat mich zutiefst erschüttert. Ich erkannte, dass ich kompositorisch von Neuem beginnen musste. In der Folge begann ich mich intensiv mit der Wiener Schule zu beschäftigen und dissertierte 1989 über Anton Webern. Parallel dazu setzte ich mich mit dem Serialismus auseinander und schrieb meine ersten Computerprogramme, die ich beim Komponieren einsetzte. Damit wurde ich 1997 bei den Salzburger Festspielen als Vertreter einer "Next Generation" präsentiert.
Danach fiel ich in ein tiefes Loch. Die Arbeitsteilung zwischen Komponisten und Ausführenden bereitete mir immer größere Probleme. Ich wollte - wie zuvor in meiner Zeit als Rock- und Jazzmusiker - wieder als Interpret auf der Bühne stehen und nicht länger in meiner Schreibstube vereinsamen. Die Zeit war gekommen, mich von meinem musikalischen Übervater zu befreien...
So begann ich, mein eigenes Computerinstrument für elektronische Musik zu entwickeln und verbrachte die folgenden Jahre damit, das Terrain zwischen Komposition und Improvisation, zwischen Elektronik und Instrumentalmusik, zwischen Konzert und Klanginstallation nach allen Richtungen hin auszuloten.
Schließlich fand ich eine befriedigende Balance zwischen Konstruktion und Spontaneität und lernte, meiner Intuition zu vertrauen. Dies führte mich wiederum zurück zur himmlischen Musik Anton Weberns, deren spiritueller Gehalt mir immer wichtiger wird.
Karlheinz Essl über die Bedeutung Anton Webern für seine kompositorische Entwicklung
Interview für Radio Ö1, 14. Januar 2014
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Updated: 29 Jan 2020