Selten sind bei neuer Musik Klangmaterial, Strukturierung und Formung so klar durchhörbar wie bei den Orgelwerken von Karlheinz Essl. Er setzt klare Regeln für Materialien und Strukturen, deren Erfüllung und Abweichung das Hören zu einem spannenden Prozess organisch entfalteter Logik macht, eben «Organo/Logics».
Seine zehn Orgelstücke schrieb Essl seit 2016 teils als Originalkompositionen oder Bearbeitungen älterer Instrumentalwerke für den Organisten der Wiener Hofburgkappelle, Wolfgang Kogert. Dieser hat sie jetzt auf der dortigen Kuhn-Orgel erst- und gesamteingespielt. Die Titel der zwischen drei und zehn Minuten dauernden Stücke benennen kurz und bündig die jeweilige Idee und «Spielregel», so Christian Scheib im ebenso umfangreichen wie informativen Beiheft. Eine willkommene Repertoirebereicherung in exzellenter Interpretation und Aufnahmetechnik!
Neue Zeitschrift für Musik, 1/2024 |
The album contains the entire organ works by Karlheinz Essl, composed between 1986 and 2021 and recorded by Wolfgang Kogert on the Kuhn-organ of the Hofburg Chapel in Vienna. It is the result of a long-term friendship and collaboration, but above all a teamwork that is entirely dedicated to the fascination of this instrument. While Karlheinz Essl draws on well-known songs in his compositions and is inspired by elements from early music to the avant- garde, Wolfgang Kogert interprets the pieces sensitively and with virtuosity. The mezzo-soprano Anna Clare Hauf can be heard as a guest musician. The title “ORGANO/LOGICS” suggests treating the album as a kind of study that opens new approaches to the “queen of instruments” on a compositional and technical level.
ORGANO/LOGICS - Teaser
Karlheinz Essl und Wolfgang Kogert stellen ihr neues Album vor
Kamera: Sebastian Kubelka, Schnitt: Simon Essl
In meiner Jugend habe ich mich brennend für Orgelmusik interessiert. Oftmals bin ich Mittwoch abends in den Stephansdom gepilgert, um die legendären Konzerte des damaligen Domorganisten Peter Planyavsky zu erleben. Die dort gehörte Musik von Bach, Johann Nepomuk David und Anton Heiller hat mich stark beeindruckt und mein Interesse an der Kunst des Kontrapunkts geweckt. Dies war sicher mit ein Beweggrund für meine Entscheidung, ab 1981 Komposition an der Wiener Musikhochschule zu studieren.
Doch mit den Jahren ist die Orgel für mich immer mehr in den Hintergrund getreten. Nach Absolvierung eines Tonsatzstudiums bei Alfred Uhl begann ich mich intensiv mit zeitgenössischer Musik zu beschäftigen und fand meine Meister in Anton Webern, Karlheinz Stockhausen und den Pionieren der elektronischen Musik. Friedrich Cerha, mein damaliger Kompositionslehrer, hat mich auf diesem steinigen Weg begleitet. Die Orgel war mittlerweile in weite Ferne gerückt, ein Relikt aus alter Zeit. Dafür kaufte ich mir 1985 meinen ersten Computer und begann, Software für algorithmische Komposition zu programmieren.
Zeitschnitt. 30 Jahre später kam mir die Idee, meine Studierenden neue Stücke für Orgel und Elektronik schreiben zu lassen. Die Anregung verdanke ich Wolfgang Kogert, dem Organisten der Hofburgkapelle, ein ausgewiesener Spezialist für neue und neueste Orgelmusik. In seinen Workshops haben wir nicht nur das aktuelle Repertoire kennengelernt, sondern unendlich viel über die Bauarten, Klangmöglichkeiten und die verschiedenen Spielweisen der Orgel erfahren. Und wir durften selbst die abgefahrensten Experimente durchführen und Dinge entdecken, die uns in Staunen versetzt haben. Seitdem reifte in mir der Wunsch, selbst für dieses Instrument zu schreiben, da ich zuvor nur ältere Werke für Orgel bearbeitet hatte.
Die auf dieser CD versammelten Werke wurden zwischen dem 18.-20.10.2022 an der Kuhn-Orgel in der Wiener Hofburgkapelle eingespielt und von Jens Jamin aufgenommen. Viele der Stücke sind Bearbeitungen bzw. Paraphrasen von Werken, die ursprünglich nicht für die Orgel geschrieben wurden und in den letzten Jahren für Wolfgang Kogert entstanden sind, der mich immer wieder dazu motiviert hatte. Auch zwei elektronische Kompositionen sind dabei, darunter auch ein Werk aus meiner Studienzeit, dessen Ausgangsmaterial ich auf einer mitteltönig gestimmten Kirchenorgel in Klosterneuburg aufgenommen hatte. Damit schließt sich ein Bogen, der mehr als drei Jahrzehnte umspannt.
In my youth I had a burning interest in organ music. I often made the pilgrimage to St. Stephen's Cathedral on Wednesday evenings to experience the legendary concerts of the organist Peter Planyavsky. The music I heard there by Bach, Johann Nepomuk David and Anton Heiller made a strong impression on me and awakened my interest in the art of counterpoint. This was certainly one of the reasons for my decision to study composition at the Vienna Academy of Music in 1981.
Over the years, however, the organ has gradually receded into the background for me. After completing my studies in music theory with Alfred Uhl, I began to concentrate intensively on contemporary music and found my masters in Anton Webern, Karlheinz Stockhausen and the pioneers of electronic music. Friedrich Cerha, my composition teacher at the time, accompanied me on this stony path. In the meantime, the organ had become a distant memory, a relic from the past. Instead, I bought my first computer in 1985 and began programming software for algorithmic composition.
30 years later, I had the idea of having my students write new pieces for organ and electronics. I owe this to Wolfgang Kogert, the organist of the Hofburgkapelle, a proven specialist in new and contemporary organ music. In his workshops we not only got to know the current repertoire, but also learned a lot about the different types of construction, sound possibilities and different ways of playing the organ. And we were allowed to do the craziest experiments and discover things that amazed us. Since then, I have had the desire to write for this instrument myself, as I had only arranged older works for organ.
The works on this CD were played on the Kuhn organ in the Viennese Hofburgkapelle between October 18-20, 2022 and recorded by Jens Jamin. Many of the pieces are arrangements or paraphrases of works that were not originally written for the organ and were created in recent years for Wolfgang Kogert, who had repeatedly encouraged me to do so. There are also two electronic compositions, including a work from my student days, whose source material I recorded on a church organ tuned in my hometown of Klosterneuburg. This closes an arc that spans more than three decades.
Der Organist Wolfgang Kogert und der Komponist Karlheinz Essl
Foto © 2022 Maria Frodl
English version...
Zehn Stücke – und ein weiteres als Bonustrack – beinhaltet das Album ORGANO/LOGICS. Ist das Zufall oder bewusst gesetzte Zahlensymbolik? Oder hat der Zufall hier eine symbolisch interpretierbare Bedeutung ergeben? Die Zahl 10 errechnet sich aus der Summe der ersten vier Zahlen, und es ist wiederum kein Zufall, dass der Universalgelehrte Athanasius Kircher, der im 17. Jahrhundert wirkte, dieses ordnende Prinzip für seine eigene Arbeit herangezogen hatte. Im Jahr 1650 erschien seine „Musurgia Universalis oder: Große Kunst der Konsonanz und Dissonanz", eingeteilt in zehn Bücher. Darin versammelte der deutsche Jesuit das von ihm zusammengetragene Wissen zur Musik. Ein Opus Magnum, dessen Arme in unterschiedliche Wissensdisziplinen ausgreifen. Von der Musikhistorie über die Medizin (der Aufbau des menschlichen Gehörs), die Mathematik, die Philosophie bis zum Bereich des Spekulativen und Mystischen spannte Kircher den Bogen seiner Klangkunde. Darüber hinaus strengte sich der gelehrte Geistliche an, den Status quo musikalischer Ausdrucksformen zu erweitern, indem er polyphone Kompositionen mithilfe algorithmischer Prinzipien schuf. Ein nach solchen Überlegungen konstruierter Musikautomat war eine wasserbetriebene, hydraulische Orgel. Die in der „Musurgia Universalis" enthaltene, detaillierte Skizze dieser zeigt sowohl ein technisch hochkomplexes wie auch symbolisch aufgeladenes Instrument, versehen mit Formeln wie „Numero Deus impare gaudet" (Gott liebt ungerade Zahlen). Es spielte „Zyklopenmusik" und eine „pythagoreische Melodie" – also auf der Mathematik fußend – was sich, wie Kircher überraschenderweise anmerkt, am besten für den Einsatz in Komödien eigne.
Athanasius Kircher: Pythagoreïscher Musikautomat
in: Musurgia Universalis (1650), tom. II, vol. IX, fol. 347
Credit: Wellcome Library, London. Wellcome Images
Athanasius Kirchers hydraulische Orgel ist Karlheinz Essls Kompositionen weit näher als ein großer und bekannter Teil des klassischen Orgelrepertoires. Die Orgel, vom altgriechischen Wort „organon" (Instrument, Werkzeug), ist ein effektvolles Instrument. Die ersten bekannten Orgeln, Wasserorgeln, stammen aus der Antike. Eine mobile Version gab es schon in der Römerzeit; sie kam in Theatern zum Einsatz und konnte aufgrund ihrer kompakten Größe auch gut im Privatbereich eingesetzt werden. Im byzantinischen Reich wurde die Orgel als Zeremonieninstrument verwendet. Seit dem 9. Jahrhundert breitete sie sich langsam in Westeuropa aus und wurde zum christlichen Kircheninstrument, das seinen Höhepunkt in der Barockzeit, sowohl in technischer als auch kompositorischer Hinsicht erlebte. Im Zusammenspiel mit der Architektur verfehlte die barocke Orgelmusik nicht ihre Wirkung. Auf die Menschen vergangener Jahrhunderte mag sie wie eine Autorität gewirkt haben, eine transzendierende Macht, deren vertikales Klanggefälle ein Loch in den Himmel riss und alle sich darunter befindlichen Menschen stauchte und berauschte. Selbst in der heutigen Alltagssprache findet sich die Redewendung „Alle Register ziehen" um überzeugendes oder manipulatives Handeln zur Erreichung eines Ziels zu beschreiben. Die Musik eine manipulative Kraft? Davon handelte etwa Helmut Kraussers in der Spätrenaissance angesiedelter Roman „Melodien" aus dem Jahr 1993, in dem der italienische Alchemist Castiglio herausfindet, dass sich mit speziellen Melodien Krankheiten heilen oder Menschen zu konkretem Handeln manipulieren lassen, was bereits Kircher in seiner „Musurgia" beschrieben hatte.
In Karlheinz Essl weckte die Orgelmusik Interesse an Komposition, als er in jungen Jahren die Konzerte des Organisten Peter Planyavsky im Wiener Stephansdom besuchte. Noch während der Studienzeit experimentierte er in Klosterneuburg mit einer Barockorgel, woraus 1986 sein erstes und für viele Jahrzehnte einziges Orgelstück „Orgue de Cologne" entstand, ein elektronisches – in Anlehnung an den Gründungsmoment der Elektronischen Musik. 1951 eröffnete der Westdeutsche Rundfunk das weltweit erste Tonstudio für Elektronische Musik in Köln.
Karlheinz Essl fand im Computer, der sich in den 1980er Jahren langsam seinen Weg in Büros und Wohnzimmer bahnte, sein bevorzugtes Medium, schrieb Programme und verwendete algorithmische Prinzipien zur Komposition. Mit bildender Kunst und Literatur begab er sich in regen Austausch und nicht selten auch in längere Dialoge, insbesondere was konzeptuelle Vorgehensweisen betrifft. Davon abgesehen beschäftigte er sich mit unzähligen Instrumenten, teils traditionellen wie der Guzheng, einer alten chinesischen Zither, teils neueren, wie dem Theremin und das durch die experimentelle Musik ins Konzertante transformierte Toy Piano. Seine Methode ist dabei stets eine offene: die Befragung des jeweiligen Instruments, also das Experimentieren mit dem Klangkörper, das Ausloten neuer Spieltechniken und vor allem auch das wechselseitige Reagieren zwischen Instrument und Musizierenden in unterschiedlichen Konstellationen im Sinne eines Dialogs, um zu Ideen für neue musikalische Formen zu gelangen. Essls Arbeit ist nie weltfremd, sondern hat, abgesehen von formalen und ästhetischen Prinzipien stets eine soziale Komponente. Nicht selten erreicht er dabei in klanglicher Hinsicht Erstaunliches, das weit abweicht vom konventionellen Umgang mit einem Instrument. Im Falle der Orgel mag das nicht einfach erscheinen, weil sie sowohl auf einer symbolischen wie auf einer technisch-klanglichen Ebene wenig flexibel ist. Oder doch nicht?
Karlheinz Essl traf 2016 auf den Organisten Wolfgang Kogert, der sowohl das traditionelle Repertoire beherrscht als auch mit zeitgenössischen Orgelkompositionen bestens vertraut ist. Zunächst arbeiteten die beiden mit Studierenden, die im universitären Kontext für Orgel und Elektronik komponierten. Das weckte Essls Neugier, sich auch in der eigenen Arbeit dem Instrument zu widmen, und so entstand unter anderem das Stück HerrGott! für die neue Riesenorgel im Wiener Stephansdom. Kogert wiederum regte an, ursprünglich für andere Instrumentierungen geschaffene Werke an die Orgel heranzuführen, zu transkribieren oder zu verändern. Diese Vorgehensweise macht ORGANO/LOGICS auch zu einer kurzen Reise durch Karlheinz Essls Schaffen, in der die Orgel als Erzählstimme wirkt.
Obwohl von großer Offenheit geprägt, ist in Karlheinz Essls Arbeit nur das dem Zufall überlassen, was als solches gewidmet ist. Insofern hat auch die Ordnung des gesamten Albums symbolischen Charakter. Am Anfang steht ein hoch aktuelles Stück mit dem Titel vingt secondes aus dem Jahr 2020, das genauso lange dauert wie das eingelernte, gründliche Händewaschen während der Corona-Pandemie. Am Ende wiederum steht die bereits erwähnte, allererste Orgelkomposition, Orgue de Cologne, und in der Mitte das für das Festival Wien Modern 2020 geschaffene Stück unbestimmt. Es strahlt wie ein Stern in dieser kleinen Klanggalaxie in alle Richtungen aus. Die Weltraummetapher kommt hier nicht von ungefähr. Das bereits erwähnte – in vielen Fällen durch die Orgelarchitektur verstärkte – vertikale Gefälle wird ausgehebelt zugunsten eines horizontalen, nach allen Seiten ausgreifenden Klangerlebnisses, das sich etwa als ozeanisches Gefühl beschreiben lässt, ein Begriff, der auf Romain Rolland zurückgeht, der darin ein Gefühl von Ewigkeit verstand (im Unterschied zur bekannteren Definition Sigmund Freuds, der darin eine Regression auf eine frühere Entwicklungsphase sah).
Zwischendrin gruppieren sich acht weitere Kompositionen, in denen die Orgel von unterschiedlichen Referenzpunkten aus erzählt. In Puzzle of Purcell paraphrasiert Karlheinz Essl Motive aus Henry Purcells Opern „King Arthur" und „Oedipus". WebernSpielWerk ist ein zentrales Stück in Essls Schaffen, das er anlässlich von Anton Weberns 60. Todestag komponierte – ursprünglich ein computergeneriertes Glockenspiel, das Weberns letzte Zwölftonreihe verarbeitet. Auf Webern verweist auch tenet opera rotas, genau genommen auf das von ihm verwendete Palindrom „Sator arepo", das Essl in seinem Werk immer wieder aufgreift. Das Satzpalindrom ist eine Abfolge der lateinischen Worte „SATOR AREPO TENET OPERA ROTAS", die von allen Seiten, im Quadrat auch vertikal oder horizontal gelesen werden kann. Von der Antike heraus, etwa in Pompeji, findet sich dieses Palindrom durch die Jahrhunderte, zumeist als Hausinschrift, von Deutschland bis in die USA. In Essls Kompositionen steht es für das Prinzip der Spiegelung ebenso wie das Enigmatische, das zwar einen rationalen Ursprung hat, aber immer auch Raum für einen unerklärlichen Rest lässt. Die palindronische Kompositionsweise hat nicht nur formalistischen Charakter, sie ist auch spielerisch zu verstehen, was das Stück Listen Thing zeigt, für das Essl die Melodie des bekannten Weihnachtsliedes „Stille Nacht" in verschiedene Richtungen – in der Originalform, als Krebs, als Umkehrung und als Krebsumkehrung – verwendet.
Der Begriff Spiegelung wiederum ist nicht nur kompositorisch zu verstehen, sondern auch im übertragenen Sinne, als Prämisse der Zusammenarbeit zwischen Karlheinz Essl und Wolfgang Kogert. ORGANO/LOGICS ist aus einem Dialog heraus, aus Spiegelungen und Reflexionen entstanden, insbesondere, was die bereits vorhandenen Arbeiten Essls betrifft, die in den Orgelkontext überführt wurden. So macht sich Essl die Raumakustik der Hofburgkapelle, deren Organist Kogert ist, in après l'avant zu Nutze, um mit den Mitteln der Live-Elektronik die statische Dimension des Instruments völlig auszuhebeln. Er selbst bewegt sich mit dem Klang der Orgel durch den Raum und lässt sie somit zu einer freien, schwebenden, ja fast schwadronierenden Erzählstimme werden.
Man könnte die kompositorische Arbeit von Karlheinz Essl in der Interpretation von Wolfgang Kogert als Dekonstruktion der Orgel begreifen, doch nicht, um diese in ihrer Verfasstheit aufzulösen, sondern um ihr weitere Dimensionen hinzuzufügen. Essl und Kogert haben die Orgel befragt und sie erzählen lassen.
English version...
„Die Spirale als strukturiertes Chaos“ war der erste Text überschrieben, den Musikpublizist Christian Scheib über den Komponisten Karlheinz Essl geschrieben hat. Das war im Jahr 1989 zu lesen im Katalog zur zweiten Ausgabe des Festivals Wien Modern und das ist erstaunlicherweise fast 35 Jahre her. Was genau dieses sprachliche Bild mit seinen begrifflichen Bestandteilen „Spirale“, aber vor allem eben „Struktur“ und „Chaos“ sagen soll und will, weiß ich bis heute nicht exakt zu benennen, aber ich würde auch jetzt nicht davor zurückscheuen, etwas zu schreiben, das auf ähnliche Weise so präzise wie mysteriös zugleich, und darüber hinaus im Wissenschaftsjargon der Gegenwart verankert ist.
Wie es dazu kam und kommt? Selbstverständlich ist es das Denken und das musikalische Werk von Karlheinz Essl selbst, das zu solch vermeintlichen begrifflichen Paradoxien herausfordert, damals wie heute. Und es ist dem Werk von Karlheinz Essl über Jahrzehnte hinweg eingeschrieben, dass die Arbeit am Werk oftmals eine Arbeit an den Spielregeln des Werks ist; dass das Werk, oder: die Essenz des Werks, letztlich aus einer Bloßlegung der Spielregeln besteht. Aus solchen Voraussetzungen entstehen selten brav überschaubare Werke, die in sich abgeschlossenen sind und bleiben, Werke, die sich nach der Fertigstellung nicht mehr verändern. Wenn das Bloßlegen der Spielregeln mehr zur Charakteristik eines Werks beiträgt, als eine bestimmte und unabänderliche Abfolge von Klängen, dann liegt der Zielpunkt weniger im Realen als im utopisch Angestrebten; dann ist das bewusste Bauen eines dauerhaften Provisoriums, das Konstruieren von etwas Veränderlichem oder einer perfekten Ruine ein essentieller Weg in Richtung einer Utopie zwischen den Welten. Und weil man eben selbst einer Utopie auf keinen Fall eine statische Unveränderlichkeit zugestehen will, liegt das Ziel eben zwischen den Welten, ist das Ziel eine veränderliche Utopie zwischen den Welten, eine Burg, ein Heim, ein Reich, wie auch immer man Aristophanes übersetzen mag, zwischen Erde und Himmel, eine Wolkenkuckucksburg eben. Wir sind auf der Spur eines Ruinenbaumeisters von Wolkenkuckucksburgen.
Es mag fast 35 Jahre her sein, dass „Die Spirale als strukturiertes Chaos“ titelgebend und identitätsstiftend wurde, eine Durchsicht und ein Durchhören der aktuellen Stücke für Orgel von Karlheinz Essl, realisiert von Wolfgang Kogert auf dieser CD, lässt aber ebenfalls und nach wie vor den hohen Stellenwert des Spiels mit den Spielregeln erkennen: WebernSpielWerk macht schon im Titel seine Absicht ebenso klar wie Puzzle of Purcell. Dass aber der Komponist und Konzeptionist Karlheinz Essl in seinen Stücken niemals nur mit der Vergangenheit tändeln würde, sondern immer streng konzeptioniert, ist dem Stücktitel tenet opera rotas – auf ein legendäres Palindrom anspielend – oder dem Stück Listen Thing; mit seinen hörbar palindromisch-kanonischen Variationen zu entnehmen. Angemerkt sei jetzt in Bezug auf diese CD mit Orgelwerken von Karlheinz Essl noch, dass auch Werke mit Titeln wie Partikel-Bewegungen, zu realisieren nach einer graphischen Partitur, oder schlicht unbestimmt, Indizien sind für ein Werkverständnis des zwar werktechnisch Fixierten, Abgeschlossenen, aber dennoch Veränderlichen, für die Kunst eines, im positivsten Sinn des Wortes, unermüdlichen Ruinenbaumeisters von utopischen Wolkenkuckucksburgen.
Selbstverständlich treffen solche Beobachtungen vom Palindrom zur konzeptionellen Offenheit auch auf andere Esslwerke als die Orgelwerke zu. Von et consumimur igni aus 1990, dessen Titel, korrekt ergänzt, ebenfalls ein Palindrom ergibt, über das Lexikon-Projekt mit Schriftsteller Andreas Okopenko zu jenen, die als Gold.Berg.Werk Johann Sebastian Bach weiterspinnen, dekonstruieren und rekonstruieren.
Post scriptum: „Der Ruinenbaumeister“ ist ein seltsamer Roman von Herbert Rosendorfer aus 1969, der mir damals, also 1989, als der erwähnte Text über das Komponieren von Karlheinz Essl entstand, schon lange bekannt war. Erwähnt wurde der Ruinenbaumeister damals dennoch nicht, obwohl der so komplex konstruierte wie phantasmagorische Roman auf der letzten Seite enthüllt, dass der titelgebende Ruinenbaumeister ein Denkmal hinterlassen hat, dessen Aufschrift es nie gegeben hat. Doch da der Ruinenbaumeister seinem Selbstverständnis entsprechend sehr wohl die Löcher für das Fixieren der Buchstaben hinterlassen hat, kann ein findiger Geist die konzipierte, aber nicht ausgeführte Inschrift dennoch identifizieren: „sator arepo tenet opera rotas“.
Nicht bewusst, also zumindest nicht in dieser Detailgenauigkeit bekannt, war mir damals, dass Karlheinz und ich, wie wohl viele Generationskolleg/innen auch, mehr oder weniger dieselben Bücher in denselben Jahren gelesen hatten. Wissen tu ich das ja auch erst, seitdem Karlheinz 2018 einer Anfrage von Andrea Maria Dusl folgend, die ihn geprägt habenden Bücher veröffentlicht hat. Neben John Cage und Karlheinz Stockhausen sind unter den Autoren James Joyce und Gerhard Rühm samt der Wiener Gruppe zu finden. Das überrascht natürlich nicht, aber manch weitere Übereinstimmung ist dann doch bemerkenswert. „Die Spirale als strukturiertes Chaos“ hat es 1989 im Wien Modern Katalog geheißen, 1984 war Ilya Prigogines und Isabelle Stengers “Order Out of Chaos” erschienen. Das von Umberto Eco proklamierte „offene Kunstwerk“ war ebenso Teil unseres alltäglichen beziehungsweise allnächtlichen Diskurses wie Jorge Luis Borges‘ „Die Bibliothek von Babel“. Paul Watzlawick fragte uns „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ und ich muss Karlheinz demnächst mal fragen, wann er eigentlich den Sammelband „Wissen und Gewissen“ von Heinz von Foerster aus 1993 gelesen hat. Oder den schon 1973 erstmals publizierten Aufsatz „Über das Konstruieren von Wirklichkeiten“, aus dessen Schlussabsatz der Hörimperativ für diese Orgelplatte stammen könnte oder sollte:
Der ästhetische Imperativ: Willst Du erkennen, lerne zu handeln.
Der ethische Imperativ: Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst.
Foto © 2022 by Maria Frodl
Karlheinz Essl, born in Vienna in 1960, is a composer, electronic musician, performer, media artist and software designer. He studied composition with Friedrich Cerha and musicology in Vienna, and was composer in residence at the Darmstadt Sum- mer Courses and at IRCAM in Paris. Since 2007 he holds a professorship in electroacoustic composition at the Vienna University of Music. In addition to instrumental pieces and compositions involving live electronics, Essl develops generative composition software, improvisation concepts, sound installations and performances. Past projects include collaborations with artists such as Harald Naegeli (the “Sprayer of Zurich”) and Jonathan Meese, with writers Andreas Okopenko and Erwin Uhrmann, and with choreographer Andrea Nagl. In 2020 Essl became a member of the Wiener Künstlerhaus.
Wolfgang Kogert (* 1980 in Wien) ist ein äußerst vielseitiger Interpret. Sein Repertoire reicht vom Robertsbridge Codex (1360) bis zur neuesten Musik. Als bisher einziger österreichischer Organist gewann er 2006 den Internationalen Wedstrijd Musica Antiqua in Brügge. Mit zahlreichen Komponist:innen, unter ihnen Friedrich Cerha, Younghi Pagh-Paan oder Wolfgang Mitterer, verbindet ihn eine intensive Zusammenarbeit. Als Solist gastierte er im Palais des Beaux-Arts Bruxelles, im Stavanger Konserthus und in der Tokyo Opera City Concert Hall. Er wurde an Kirchen wie Notre Dame de Paris und dem Freiburger Münster eingeladen und arbeitete mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra, dem Sydney Symphony Orchestra oder dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien zusammen. 2012 wurde er zum Organisten der Wiener Hofburgkapelle ernannt. Seit 2015 lehrt Wolfgang Kogert Orgel an der Universität Mozarteum Salzburg, 2020 übernahm er zusätzlich eine Professurvertretung an der Hochschule für Musik Freiburg.
Wolfgang Kogert, born in Vienna in 1980, is an extremely versatile organ player, with a repertoire ranging from the Robertsbridge Codex (1360) to the latest contemporary com- positions. He is the first, and to date the only, Austrian organist to ever have won the Internationale Wedstrijd Musica Antiqua in Bruges (2006). Kogert has established close collaborations with many composers, including Friedrich Cerha, Younghi Pagh-Paan and Wolfgang Mitterer. As a soloist he has performed at the Palais des Beaux-Arts Bruxelles, the Stavanger Konserthus and the Tokyo Opera City Concert Hall. He has been invited to play e.g. at Notre Dame de Paris or Freiburger Münster, and has collaborated with the Pittsburgh Symphony Orches- tra, the Sydney Symphony Orchestra and the ORF Radio-Symphonieorchester Wien. In 2012 he was appointed organist of the Imperial Castle’s Court Chapel in Vienna. Since 2015 Wolfgang Kogert has been teaching organ at Universität Mozarteum Salzburg, in 2020 he also accepted a temporary professorship at the Hochschule für Musik Freiburg.
Anna Clare Hauf, geboren in London, studierte an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien Gesang. Ihre besondere Vorliebe gilt der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik, sowohl auf der Opernbühne als auch im Konzertsaal. Ihre letzten wichtigen Engagements waren bei den Schwetzinger SWR Festspielen in Enno Poppes Oper „IQ“ und in der Märchenoper „Das Kind der Seehundfrau“ (Jesse Broeckman) beim Festival Wien Modern. Anna Clare Hauf konzertierte u.a. mit dem Klangforum Wien, der Camerata Salzburg und der Wiener Akademie, darunter zahlreiche Uraufführungen mit Werken von Christian Muthspiel, Otto M. Zykan, Pierluigi Billone, Bernhard Lang oder Lothar Voigtländer. Ab dem Jahr 2009 übernahm Anna Clare Hauf zudem die Gesangsparts beim Vienna Art Orchestra. Als singende Schauspielerin und Performerin gastiert sie regelmäßig im Wiener Kabinetttheater und als Liedsängerin war sie mit Werken von Mahler, Wagner, Krenek und zeitgenössischer Musik zu hören, z.B. im Wiener Konzerthaus und auf der Ruhrtriennale.
The mezzosoprano Anna Clare Hauf was born in London and grew up in Vienna. She studied voice with Rotraud Hansmann and Charles Spencer at the Vienna University of Music. Hauf’s special affinity with contemporary music, both in an opera context and on the concert stage, is evidenced by numerous collaborations in particular with Neue Oper Wien, most recently e. g. in Péter Eötvös’ “Paradise reloaded (Lilith)”, and Klangforum Wien (e. g. in Enno Poppe’s “IQ” at the 2011 Schwetzinger SWR Festspiele). Anna Clare Hauf has performed concerts e. g. with Klangforum Wien, Nied- erösterreichische Tonkünstler, Camerata Salzburg, and the PHACE ensemble, and premiered works by Christian Muthspiel, Otto M. Zykan, Pierluigi Billone and Bernhard Lang. She has also been a singer with the Vienna Art Orchestra since 2009.
Karlheinz Essl & Wolfgang Kogert
Foto © 2022 Maria Frodl
Foto © Regina Aigner, BKA
Listen Thing
1 HW Rohrflöte 4' (halb) + SW Traversflöte 4'(halb)
2 HW Dulciana 8' (halb), Quinte 2 2/3' (halb) + SW Hohlflöte 8' (halb)
3 SW Flageolet 2' (halb), Scharf 1 1/3' (halb)
4 HW Rohrflöte 8‘ (halb) + SW Hohlflöte 8' (halb), Tremulant
Puzzle of Purcell
rechte Hand: HW Principal 8', Oktave 4', Terz 1 3/5', Mixtur 2'
linke Hand: SW Hohlflöte 8', Salicional 8', Principal 4', Traversflöte 4', Flageolet 2', Scharf 1 1/3'
P Subbass 16', Oktavbass 8', Octave 4', Basson 16', Basson 8'
HerrGott!
T1 SW Hohlflöte 8', Voix Celeste 8' / P Subbass 16', Octavbass 8', Bourdon 8'
T24: SW - Hohlflöte 8' + Salicional 8'
T33: HW Dulciana 8', Rohrflöte 4', Quinte 2 2/3'
T34: SW Hohlflöte 8', Traversflöte 4'
T48: HW + Bourdon 8', Terz 1 3/5' / P + Octave 4', Basson 16'
T52: SW Salicional 8', Traversflöte 4', Voix Humaine 8', Tremulant
T58: P wie T1 / SW - Flöte 4'
WebernSpielWerk
1 HW Dulciana 8', Rohrflöte 4'
2 SW Flageolet 2', Cornet II
3 HW Bourdon 8' (halb) / P Subbass 16' (halb)
4 HW + Prinzipal 8' (halb) / SW + Scharf 1 1/3' / P + Bourdon 8' (halb)
Prendere il Fa
1 SW Hohlflöte 8', Traversflöte 4', Flageolet 2'
2 SW Salicional 8', Principal 4', Oboe 8'
3 SW Hohlflöte 8', Salicional 8', Principal 4', Scharf 1 1/3'
P (sempre!) Bourdon 8
tenet opera rotas
T SW Oboe 8', Principal 4', Scharf 1 1/3' / P Subbass 16', Bourdon 8'
E HW Rohrflöte 4', Terz 1 3/5'
N HW Bourdon 8', Octave 4', Trompete 8' + SW Hohlflöte 8', Principal 4', Cornet II, Flageolet 2', Oboe 8' / P Subbass 16', Octavbass 8', Octave 4', Basson 16', Basson 8'
unbestimmt (Ausgangsregistrierung)
rechte Hand: SW Hohlflöte 8'
linke Hand: HW Bourdon 8'
Pedal: Octave 4'
Wolfgang Kogert: organ
Anna Clare Hauf: voice (on Partikel-Bewegungen)
Elke Eckerstorfer, Sarah-Maria Pilwax: assistants (on unbestimmt)
Karlheinz Essl: composition, electronics (on aprés l'avant and Orgue de Cologne)All compositions © by Karlheinz Essl
Recorded at the Hofburgkapelle Vienna between Oct 18-20th, 2022
Organ by Orgelbau Kuhn (2003)Recording, editing, mastering: Jens Jamin
Photography: Maria Frodl
Translation: Astrid Tautscher
Graphic design: Circus. Büro für Kommunikation und GestaltungFirst Listener's Note: Erwin Uhrmann
Line Notes: Christian Scheib
Composer's Statement: Karlheinz Essl
Producer: col legno GmbH
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Updated: 5 Mar 2024