Margarethe Engelhardt-Krajanek
"Ich habe mich vor 15 Jahre zum ersten Mal damit beschäftigt. Dabei entstand eine Klavierkomposition mit dem Namen Lexikon-Sonate, die sich insofern von herkömmlichen Klavierstücken absetzt, als sie ohne Pianisten funktioniert und dass sie unendlich ist. Das geht nur über ein Computerprogramm, das die Komposition des Stückes darstellt und dieses im Moment des Erklingens komponiert und gleichzeitig auf einem speziellen Computerklavier, das mit einer Spielmechanik ausgestattet ist, spielt. Damit ist es mir damals zum ersten Mal gelungen, diese Idee eines Musikstückes, das sich außerhalb der Zeut befindet, indem es sich ständig neu konstituiert, umzusetzen."
Thematisch ließ sich Karlheinz Essl von Andreas Okopenkos Lexikon-Roman inspirieren, der in diesem Werk auf eine (chrono)logische Dramaturgie verzichtet und die Textpassagen nach einem Zufallsprinzip aneinanderreiht. Das Instrument Klavier wählte Essl als Synonym für die Sonate. Realisiert wurde die Lexikon-Sonate erstmals im Rahmen des Kunstradios. Die Produktion wurde am 10. Februar 1994 im Großen Sendesaal des Österreichischen Rundfunks aufgezeichnet.
"Da stand dieses riesengroße Bösendorfer SE Computerklavier - ein Imperial-Flügel mit computergesteuerter Spielmechanik - auf der Bühne. Es gab in dieser Live-Sendung auch Live-Publikum. Wir haben eine Telefonschaltung eingerichtet, und vor der Sendung bekanntgegeben, dass durch Wählen einer bestimmten Nummer das Computerprogramm einen Impuls erhält, aufgrund dessen es sein kompositorisches Verhalten ändert. Als das Stück begann, war es total still. Dann kam der erste Anruf, gab den ersten Impuls, und das Klavier begann zu spielen. Kurze Zeit später kam der zweite Anruf: Das Klavier hat weiter gespielt und das, was es zuvor gespielt hatte, weiter gemacht, aber eine neue musikalische Schicht dazugefügt. Der dritte Anruf ließ sich eine weitere Schicht aufbauen. Nach dem vierten Anruf viel die erste Schicht weg und eine neue kam dazu. Das heißt, es entstand dadurch ein strukturelles Fade-In / Fade-Out von verschiedenen Musikströmen, die das Stück konstituiert haben - gesteuert von der HörerInnen, die von außen immer wieder angerufen haben."
"Wenn man in einem solchen Kontext ohne Absprachen miteinander improviert, kann sich - wenn das Ganze funktioniert - eine gemeinsame Zeiterfahrung einstellen. Die kann einerseits sehr intensiv, rasch und dicht sein, aber auch sehr langsam und ausgebreitet. Die Kunst ist es nun, ohne verbale Verständigung, zu einer solchen gemeinsamen Zeitwahrnehmung zu gelagen. Dann wird's stimmig; dann ist es auch klar, warum jemand etwas bestimmtes tut oder auch nicht tut. Dass man auf eine gemeinsame Zeitempfingung vertraut, die auch den richtigen Zeitpunkt bestimmt, wann etwas wird oder wann sich etwas ändert."
"Das heißt letztlich, dass Zeit, auch wenn wir sie objektiv mit Uhren zu messen versuchen, eine subjektive Qualität ist. Wir erleben es ja ständig, dass wir Zeit verschieden lang oder kurz wahrnehmen. Es gibt dazu ein schönes Beispiel von Anton Webern, der bekanntermaßen sehr reduzierte und sehr verdichte Stücke geschrieben hat: Obwohl er als Komponist und Dirigent über sein sehr gutes Zeitgefühl verfügen sollte, hat er sich bei seinen eigenen Kompositionen regelmäßig verschätzt, wie lange sie dauern. Wie der die Symphonie op. 21 komponiert hat, hat er einem Freund eine Brief geschrieben und berichtet, dass er gerade an einem abendfüllenden Orchesterwerk arbeitet. De facto dauert dieses Stückes nur ein paar Minuten."
"Gerade in solchen experimentellen Konzepten, wie sie John Cage entwickelt hat, wo sich verschiedene Musiker in individuellen Zeiträumen bewegen und nicht miteinander synchronisiert sind, ist der Moment des Zwischenraums - oder der Pause - ein ganz wichtiger Aspekt: Dort, wo der eine pausiert, kann der andere hörbar werden. Dies passiert auch bei dem berühmten Cage-Stück 4'33", das im Grunde eine ausnotierte Pause ist. Eine mit Stoppurh exakt gemessene Pause, die in drei verschiedene Sätze gegliedert ist. Diese Komposition besteht eigentlich nur aus einer Fermate, einer Zeitangabe und der Anweisung, den Klavierdeckel auf- und zuzumachen, um diese einzelnen Teile des Stückes zu markieren. Aber das, was dabei wirklich hörbar wird, ist das Publikum selbst. Man hört sich selbst und nimmt sich selbst wahr."
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Radiokolleg: Vom Klang der Zeit 4-teilige Sendereihe von Margarethe Engelhardt-Krajanek Ö1, 25.-28.06.2007 |
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Updated: 6 Jan 2018