Portrait
Karlheinz Essl

Klangkomposition und Systemtheorie

1993


Dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag, der am 16. Juli 1990 bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik gehalten wurde. Siehe dazu auch die kritische Analyse von Ulrich Mosch: Systemtheorie und Komponieren. Anmerkungen zum Karlheinz Essls kompositorischem Ansatz (1993)


Karlheinz Essl während seiner Lecture bei den Darmstädter Ferienkursen 1990

Karlheinz Essl während seiner Lecture Klangkomposition und Systemtheorie
Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, 16. Juli 1990


Inhalt

  1. Klang als Prozeß
  2. Order Out of Chaos
  3. Klangorganismen
  4. Definition des Materials
  5. Strategien der Auswertung
  6. Computer Aided Composition


1. Klang als Prozeß

Seit den experimentellen Vorstößen der seriellen Musik in mikrozeitliche Dimensionen hat die Komposition des Klanges selbst einen neuen Stellenwert erhalten. Dieser ist nicht mehr eine akzidentielle Zutat wie in der traditionellen Instrumentation, wo er – abgesehen von narrativen Momenten – als "Klangfarbe" zur Verdeutlichung struktureller Zusammenhänge diente. Anstelle eines objet trouvés wird der Klang nun zum Zentrum kompositorischer Arbeit. Dadurch wandelt sich seine Funktion vom Objekt (einem Zustand statischen Seins) zum Prozeß (einem dynamischen Vorgang des Werdens).

In diesem neuen Begriff vom Klang als Prozeß [1] fallen so unterschiedliche musikalische Dimensionen wie Material, Struktur und Form zusammen. Demnach kann eine Komposition, wie Helmut Lachenmann ausgeführt hatte, als Entfaltung eines einzigen, unendlich in sich differenzierten Klanges aufgefaßt werden, der in einem mehrdeutigen Abtastprozeß erfahrbar wird [2]: der mündige Hörer komponiert gleichsam beim Hören das Werk zu Ende. Er "konstruiert" im Sinne des Radikalen Konstruktivismus [3] aufgrund persönlicher Voraussetzungen sein eigenes Kunstwerk und tritt als Mitschöpfer aus der gesellschaftlich verordneten Passivität. Eine Komposition, die solches zuläßt, darf mit Recht als "offenes Kunstwerk" bezeichnet werden; "es kann auf tausend verschiedene Arten interpretiert werden, ohne daß seine irreproduzible Einmaligkeit davon angetastet würde. Jede Rezeption ist so eine Interpretation und eine Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt" [4].


2. Order Out of Chaos

Wesentlich für die Realisierung "offener" Klangprozesse war meine Auseinandersetzung mit systemtheoretischen Untersuchungen, namentlich Ilya Prigogine's Order Out of Chaos [5]. Hier beschreibt der Autor, wie in chaotischen Systemen, die sich nicht im Gleichgewicht befinden und nach außen hin nicht abgeschlossen sind, Gegenkräfte mobil werden, die – entgegen den Postulaten der klassischen Thermodynamik – neue Ordnungszustände etablieren können. Die Konsequenzen dieser Einsicht scheinen weiterreichend, als auf den ersten Blick vermutet werden könnte: hier riecht es verdächtig nach Revolution, die nicht nur ein physikalisches, sondern jegliches erstarrtes, obrigkeitshöriges Weltbild in Frage stellt.

Drei weitere Gesichtspunkte wurden für meine kompositorische Arbeit wesentlich. Nämlich

  1. die Erkenntnis, daß solch "offene" (also nicht in einem stabilen Gleichgewichtszustand befindlichen) Systeme trotz einfacher Ausgangsbedingungen ein komplexes Verhalten zeigen;

  2. daß es darin keine festen Setzungen gibt – alles befindet sich im ständigen Übergang, einem durch Kräfte und Gegenkräfte gesteuertem Fluß;

  3. daß trotz dieser prinzipiellen Mobilität immer wieder Momente von Gravitation, Verfestigung und Verdichtung – sogenannte "Attraktoren" – auftreten: geordnet erscheinende Bereiche innerhalb eines chaotisch anmutenden Verhaltens.

Das Faszinierende an Prigogine's Untersuchungen ist der neue, nichthierarchische Ordnungsbegriff. Chaos und Ordnung werden nicht länger als Widersprüche gesehen, sondern als Extrempole, zwischen denen vielfältige Übergänge möglich sind. Diese Erfahrung begegnet uns auch im täglichen Leben auf Schritt und Tritt. So kann einerseits Chaos aus Ordnungsprinzipien entstehen, wenn deren Komplexität so groß ist, daß das Resultat den Charakter von "verborgener Vorhersehbarkeit" annimmt. Umgekehrt aber können im Chaos Bereiche von Ordnung entstehen, wenn innerhalb des Systems Kräfte mobilisiert werden, die dem drohenden Zerfall entgegensteuern.

In der Dialektik von Chaos und Ordnung liegt etwas vom Geheimnis lebendiger Prozesse beschlossen: Ordnung als notwendiger Stabilisierungsfaktor, als Mittel zur Vertiefung; Chaos hingegen als notwendiger Varianzfaktor, als Mittel zur Erweiterung der empirischen Erkenntnis. Bildlich gesprochen: Wäre die Ameise nicht zufällig von der Ameisenstraße abgeirrt, hätte sie nicht die neue Futterquelle entdecken können.


3. Klangorganismen

Seinen ersten Niederschlag fand dieses Gedankengut im Streichquartett Helix 1.0 (1986), das den Versuch darstellt, vor den Ohren des Hörers einen Klangorganismus zu erschaffen. Ein Gebilde, das sich aus kleinsten Einheiten zusammensetzt und in ständiger Veränderung begriffen ist, worin sich die Vorstellung von Wachstum, Entwicklung, Mutation, Zerfall, Neubildung und Zerstörung ausdrückt.

Als Metapher für Wachstums- und Veränderungsprozesse diente mir das Bild der Spirale: die Synthese von Kreis (das Symbol der ständigen Wiederkehr) und Gerader (das Symbol für Entwicklung). Eine Spirale kennt keine linearen Übergänge, denn eine Wiederkehr erfolgt dort immer unter geänderten Bedingungen. Voraussetzung für dieses Bildungsprinzip ist eine Skala von Zustandsqualitäten, in der jedes Element Anknüpfungspunkte bzw. Nahtstellen zu seinem Vorgänger und Nachfolger aufweist. Innerhalb einer Helix können nur benachbarte Glieder aufeinanderfolgen; der Übergang von einem Zustand in einen anderen mag zwar vielfältig gebrochen sein, erscheint letztlich aber zwingend. Auf vielfältige Weise durchziehen Spiralstrukturen die ganze Komposition. Sie steuern die Abfolge der Klangpartikel, der verschiedenen Zeitwerte und Formteile ebenso wie die Bewegungen der Tonhöhen und die dynamischen "Hüllkurven".

Helix 1.0 besteht aus vier parallel ablaufenden, miteinander kommunizierenden Klangprozessen. Diese setzen sich aus einzelnen Klangpartikeln zusammen, die von vornherein mehrdeutig angelegt sind: die punktuelle Bedeutung des Einzelnen ist den dynamischen Relationen zwischen den Elementen untergeordnet. Erst im jeweils sich ergebenden globalen Kontext erhalten sie ihre spezifische Bedeutung. Diese Permeabilität wird erreicht, wenn die Klangpartikel strukturell möglichst einfach – ja, rudimentär – gebaut sind. Im ersten Abschnitt sind es 7 Grundelemente – Sedimente aus dem Fundus des geschichtlichen Sujets "Streichquartett" – deren Bestimmungsgrößen Spielweise, Dauer und Dynamik fest aneinander gekoppelt sind. Sie bilden eine Art "digitale" Skala zwischen lauten, kurzen und geräuschhaften Bartók-Pizzikati und leisen, sanft an- und abschwellenden Liegeklängen. Die gegenseitige Durchdringung dieser Klangpartikel läßt größere, komplexere Gebilde entstehen, die sich niemals festsetzen, sondern einem Veränderungsprozeß unterworfen sind, in dem sich die verschiedenen "Attraktoren" entfalten. Wie gesagt: nicht der einzelnen Klang steht im Vordergrund, sondern die jeweiligen Relationen und Spannungen zwischen den Klängen. Nicht das Objekt an sich erlangt Bedeutung, sondern erst der Prozeß zwischen verschiedenen Objekten, wo ihre Spannungen und Widersprüche ausgetragen werden (siehe Notenbeispiel Helix 1.0, Takt 1 - 34).

Ganz allgemein gesprochen beinhaltet ein systemtheoretisch orientiertes Kompositionsmodell die Definition des Materials und die Strategien seiner Auswertung. Diese Bereiche möchte ich näher beleuchten.


4. Definition des Materials

Ebenso wie der Begriff "Klang" erscheint mir das "Material" heute nicht bloß als etwas Vorgefundenes, dessen man sich ad libitum bedienen kann. Es stellt eine Matrix von Beziehungen dar; ein offenes, wenngleich definitorisch abgestecktes Feld von Möglichkeiten. Dabei ist es selbst schon das Produkt kompositorischer Arbeit: der Versuch, aus dem ganz Amorphen Individualitäten zu schaffen.

Der Begriff "Material" beinhaltet zwei Aspekte: die Beschreibung von Zustandsgrößen und die Logik der Verknüpfung, welche als Substitut für das obsolet gewordene Musiksprachliche fungiert. Eine solche Matrix, die durch Interaktion zwischen Daten und Regeln definiert wird, generiert immer neue Varianten seines Ausgangspotentials: das Material ist flüssig geworden, selbst schon prozessual.

a) In Helix 1.0 (1986) ist es ein Repertoire aus 7 sehr einfach gebauten Klängen und eine an Spiralprinzipien orientierte Verknüpfungslogik.

b) Im Orchesterstück met him pike trousers (1987) treten fünf komplexe Klangcharaktere an die Stelle jener rudimentären Klangbausteine: "digitale" Übergänge zwischen PUNKTEN und FLÄCHEN, deren Erscheinungsformen während des zeitlichen Ablaufs einem Verwandlungsprozeß unterliegen. Dieser ist so gestaltet, daß sich die anfänglich unausgeprägten Klangcharaktere mehr und mehr zu "Gestalten" zusammenschließen, bis zuletzt ihre höchst entwickelten Reinformen deutlich in den Vordergrund treten.

c) Die Klangpartikel von Rudiments (1989) für vier räumlich verteilte kleine Trommeln bestehen einzig aus Impulsen der mannigfachen Klangerzeugungsmöglichkeiten des Instruments. Ihre Projektion in verschiedene Zeitbereiche läßt das Material in drei qualitativ unterschiedlichen Aggregatzuständen erscheinen. Die Grenzbereiche der Beziehungsmatrix umfassen isolierte Einzelschläge, die sich zu rhythmischen Rastern beschleunigen und schließlich in flächige Wirbelklänge münden, wo die Pulsationsgeschwindigkeit so hoch ist, daß die rhythmische Qualität in einen stehenden Klang umschlägt. Aus den Übergängen und Kombinationen dieser Aggregatzustände werden – ähnlich wie in der elektronischen Granular-Synthese – größere Klangkomplexe aufgebaut. Da die vier Trommeln rund um das Publikum aufgestellt sind und so die rhythmisch-zeitliche Struktur der vier Klangprozesse in den Raum projiziert wird, erscheint als komplexes Resultat sich vernetzender interferierender Klangprozesse schließlich ein bewegter Klangorganismus, der im Raum zu schweben scheint.


5. Strategien der Auswertung

Beinhaltet oben beschriebene Matrix die "objektivierte" Ideenwelt des Komponisten, die ihm als Spiegel seiner Intentionen dienen möge, so handelt es sich bei den Auswertungsstrategien um das "subjektive" Reagieren darauf[6]. Der Komponist ist eben kein außenstehender Konstrukteur, der eine Maschine baut, in Gang setzt und ihrem Schicksal überläßt, sondern – das erscheint mir besonders wichtig – selbst Teil des Systems. Seine Absichten, Wünsche, Ziele und ästhetische Orientierung finden darin Eingang, ebenso seine Fähigkeit, aus den jeweiligen Systemkonstellationen Konsequenzen zu ziehen, die wiederum in das System einfließen und dessen Verhalten modifizieren können. Umgekehrt aber verändert sich auch die Erkenntnis des Subjekts durch den Output, den ihm sein "objektiver" Widerpart liefert. Das Moment der Rückkopplung, ein Kernstück jedes dynamischen Systems, ist dadurch gegeben.

Diese Strategien – mögen sie von vornherein festgelegt sein oder spontan entschieden werden – sollten es dem Komponisten ermöglichen, auf jeder ihm wesentlich erscheinenden Ebene der Komposition direkt eingreifen zu können. Dadurch wird das Subjekt zur zentralen Integrationsfigur, die aus den aufeinanderprallenden Systemkomponenten kreatives Potential zu ziehen vermag und so die Synthese leistet, die maschinell nicht bewerkstelligt werden kann.

Das spontane, wenngleich kontextbezogene Reagieren auf fluide Materialkonstellationen ist ein wesentliches Kompositionsprinzip des Orchesterstücks In Girum. Imus. Nocte (1991). Mittels eines Computerprogrammes wurde ein Strukturskelett erarbeitet, das die zeitliche Entfaltung und Strukturierung ganzer Familien von Klängen und deren Ableitungen bestimmte. Solcherart festgesetzte Bestimmungsgrößen geben dem Gesamtprozeß eine eindeutige Richtung, sind aber mit Absicht lückenhaft gestaltet, sodaß die konkrete musikalische Erscheinung erst durch subjektive Ergänzung entsteht. Ähnliche Konstellationen können sich so aufgrund des bereits zurückgelegten Weges und den dabei gewonnenen Erfahrungen als neuartige Gestalten manifestieren. Dies hat freilich mit der Idee des Stückes zu tun, Wahrnehmungsveränderungen zu thematisieren: der Hörer wird auf Reise durch eine Klangwelt geschickt, deren Interieur – aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet – immer neue Façetten erkennen läßt, wobei der dynamische Prozeß des Erkennens das Gehörte selbst verändert.


6. Computer Aided Composition

Zum Abschluß möchte ich mich der Frage nach der adäquaten Realisierung der hier beschriebenen Systeme widmen. Dabei kann eine universelles Maschine, wie ein Computer sie darstellt, von großem Nutzen sein. Zunächst aber gilt es, eine Software auszuarbeiten, die die nur mit potentiellen Fähigkeiten ausgestaltete Hardware in ein für diese Zwecke geeignetes Werkzeug verwandelt.

Klarzustellen ist, daß ein starres Programm für die flexible Gestaltung unterschiedlicher kompositorischer Modelle nicht in Frage kommen kann. Wesentlich sinnvoller erscheint mir eine offene Programmierumgebung, die eine Syntax beinhaltet, mit Hilfe derer musikalische Systeme beschrieben und konstruiert werden können. Durch Programmieren eines solchen "Environments" kann der Komponist den objektivierbaren Aspekt seine kompositorischen Absichten formulieren. Da aber die Absichten ebenso verschieden sind wie die Arten zu denken, muß die Programmierumgebung dem Rechnung tragen: ihre "Sprache" – das ist der Wortschatz und die Grammatik – muß flexibel und erweiterbar sein, damit sie der Benutzer ganz an seine Bedürfnisse anpassen kann. Neben den Forderungen nach Offenheit, Modularität und Extensiblität wäre noch die nach Transparenz zu nennen, die es dem Komponisten ermöglicht, Einblick in alle laufenden Prozesse zu erhalten, um gegebenenfalls interaktiv einzugreifen. Dadurch wäre auch eine Schnittstelle geschaffen, an der die Auswertungsstrategien unmittelbar ansetzen könnten. Ein solches individuelles, rhizomatisch wachsendes Kompositions-Environment könnte schließlich – als Utopie – den jeweiligen Stands des persönlichen kompositorischen Denkens reflektieren [7].

© by Karlheinz Essl / SCHOTT


Erschienen in den Darmstädter Beiträgen zur Neuen Musik, Bd. XX, hrsg. von Ulrich Mosch und Gianmario Borio in Verbindung mit Friedrich Hommel (Mainz 1994).


Anmerkungen:

[1] Siehe dazu die grundlegende theoretische Arbeit von Konrad Boehmer, Werk - Form - Prozeß; in: Musik auf der Flucht vor sich selbst, hrsg. von Ulrich Dibelius (München 1969) S. 55 ff.

[2] Helmut Lachenmann, Klangtypen der neuen Musik, in: Zeitschrift für Musiktheorie I/1, hrsg. von Karl Michael Komma und Peter Rummenhöller, Stuttgart, April 1970, p. 20-30.

[3] Siehe: Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus (Frankfurt/Main 1987) – Paul Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? (München, Zürich 1984)

[4] Umberto Eco, Das offene Kunstwerk (Frankfurt/Main 1977), S. 30

[5] Ilya Prigogine & Isabelle Stengers, Order Out of Chaos. Man's New Dialogue with Nature (Toronto, New York 1984)

[6] An Hand von Gottfried Michael Koenigs Streichquartett 1959 habe ich die Interaktion zwischen "objektivem" Modell und "subjektiver" Auswertung darzustellen versucht.

[7] Seit 1989 arbeite ich an der Entwicklung eines offenen Systems spezialisierter Module, durch deren Vernetzung sich unterschiedlichste Kompositionsmodelle konstruieren lassen. Aufgrund der sich laufend verändernden kompositorischen Fragestellungen wird es ständig weiterentwickelt. Dieses Kompositions-Environment ist in xLOGO implementiert und läuft auf einem ATARI ST-Computer. Für seine Diskussionsbereitschaft und programmtechnischen Hilfestellungen bin ich Gerhard Eckel zu großem Dank verpflichtet.



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Updated: 3 Aug 2023

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