Lyrics by Friedrich Dürrenmatt, Franz Neovalis Neulinger and Hans Magnus Enzensberger
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Livemitschnitt aus der Wiener Konzerthaus am 10. November 1987
Claus Kühbacher: Bariton, Ensemble 86
Wenn vom Tode die Rede ist, stellt sich zugleich die Frage nach der Definition von Leben. Dieses nur als mehr oder weniger reibungsloses Ablaufen organischer Funktionen zu sehen, entbehrt nicht eines gewissen Zynismus, dessen Verbreitung heutzutage erschreckende Ausmaße angenommen hat. Leben scheint aber mehr zu sein als ein dumpfes Dahinvegetieren innerhalb der engen Bahnen, die die Beglückungsindustrie uns gnädiglich zugedacht hat. Es ist dort zu finden, wo man sich noch die Fähigkeit bewahrt hat, feinsinnig und originell auf die Eindrücke unserer Welt zu reagieren. Der Tod selbst beginnt nicht erst mit dem Sterben: er ist ein schleichendes Gift, dessen Zersetzungswerk in grauenhafter Unbemerktheit vor sich geht. Er begegnet uns tagtäglich als Mummenschanz in den subtilen gesellschaftlichen Zwängen, wenn einem weisgemacht wird, daß nur dies sinnvoll sei, was der Mehrheit billig als "Sinn" untergejubelt wurde. Die Absicht ist klar: der Mensch - zum Lemniskaten-Durchtanzer degradiert - hat nur mehr den funktionellen Wert, mitzumachen, um ja nicht das System (das sich in seiner Komplexität als äußerst störungsanfällig erweist) zu gefährden. In diesem Sinne kann die alte Warnung "Bedenke Mensch, daß Du sterben wirst!" (Psalm 90, 12) heutzutage auch als Aufforderung verstanden werden, sich mitten im Leben nicht abtöten zu lassen durch die grausamen Mechanismen von Masse und Macht.
Die drei in Memento Mori verwendeten Texte unterscheiden sich zwar hinsichtlich ihrer Sprache und ihres Inhalts, dennoch lassen sich geheime gedanklich Beziehungen zwischen ihnen feststellen. Dürrenmatts "Psalm Salomos, den Weltraumfahrern zu singen" (aus dem Drama "Die Physiker") handelt von einer Flucht ohne Wiederkehr in die unermeßlichen Weiten des Alls, die schließlich in Verwesung, Verkrustung und Fäulnis endet. - Enzensberger begibt sich in seinem "Gespräch der Substanzen" gleichsam in den Bereich des Molekularen, entdeckt Leben dort, wo man Anorganisches vermutet. Eine Flucht vor den Zwängen des Alltäglichen bietet sich an: das Eingehen in einen gleichsam kristallinen Seinszustand, in dem keine Fragen mehr gestellt zu werden brauchen: ein Verharren und Lauschen, wo keine Sprache mehr ist.
Diese beiden Texte - sie stellen die literarischen Eckpfeiler der Komposition dar - stehen sich in ihrem Inhalt diametral gegenüber. Wird im ersten Gedicht der MAKRO-Kosmos artikuliert, so findet sich in letzten die Bezugnahme auf das MIKROskopisch-Elementare. Die daraus resultierende dialektische Spannung löst sich gewissermaßen "synthetisch" in Franz Neovalis Neulingers "Akamantomenios-Gesang". Hier wird das ausgesprochen, worum die beiden anderen Texte kreisen: der Tod einerseits als Symbol des realen Ablebens, andrerseits als Sigel für das Absterben und Abstumpfen in einer grausamen Welt, "in der sie Dich kaltschmieden vor laufenden Kameras" (Neulinger).
Mir war es darum, auf jedes oberflächliche Pathos zu verzichten und der Expressivität der Texte auf der untersten musikalischen Ebene - die der Konstruktion - gerecht zu werden. Der Ausdruck, der dennoch angestrebt wird, ist die Konsequenz einer Vorgangsweise, die das Ausgangsmaterial in einen ständigen Variationsprozeß zwingt. Dieses Verfahren der ständigen (Selbst)-Reflexion und Neuformulierung scheint mir - im Gegensatz zu einem "Verharren im tonlosen Monolog der Substanzen" (Enzensberger) - mit ein Synonym für "Leben" zu sein. Gleichwohl kommt es hier zur Ausbildung quasi-thematischer Gestalten, die - in verschiedenen Ausprägungen innerhalb eines jeden Textes - das musikalische Geschehen bestimmen. Zwischen diesen "thematischen" Sedimenten wird in Form von Überblendungen (einer dem Film entlehnten Technik) vermittelt: verbrauchtes Material wird einem Abtötungsprozeß unterworfen, aus dessen Bruchstücken nahezu unbemerkt neue Gestalten hervorgehen, die wiederum nur eine Lebensspanne lang das musikalische Geschehen bestimmen. Hier habe ich erstmals ein Organismuskonzept zu verwirklichen versucht, das meine späteren Arbeiten (Helix 1.0 für Streichquartett und met him pike trousers für großes Orchester) zum bestimmenden Faktor meiner musikalischen Denkungsart geworden ist. Die Spannung von Leben und Tod ist hier ins Musikalisch-Konstruktive transzendiert worden.
Programmhefttext anläßlich einer Aufführung im Wiener Konzerthaus am 10. November 1987 im Rahmen des Musikfestes "Österreich heute" durch das Ensemble '86 mit Claus Kühbacher (Gesang).
Ein Psalm Salomos, den Weltraumfahrers zu singen
aus: Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker
Wir hauten ins Weltall ab
zu den Wüsten des Monds.
Versanken in ihren Staub,
lautlos verreckten manche schon da.
Doch die meisten verkochten in den Bleidämpfen des Merkurs,
lösten sich auf in den Ölpfützen der Venus
und sogar auf dem Mars fraß uns die Sonne
donnernd, radioaktiv und gelb.
Jupiter stank.
Ein pfeilschnell rotierender Methanbrei
hing er so mächtig über uns,
daß wir Ganymed vollkotzten.
Saturn bedachten wir mit Flüchen.
Was dann weiter kam, nicht der Rede wert.
Uranus, Neptun,
graugrünlich erfroren.
Über Pluto und Transpluto
fielen die letzten unanständigen Witze.
Hatten wir doch längst die Sonne mit Sirius verwechselt,
Sirius mit Kanopus.
Abgetrieben trieben wir in die Tiefen hinauf
einigen weißen Sternen zu,
die wir gleichwohl nie erreichten.
Längst schon Mumien in unseren Schiffen,
verkrustet von Unrat;
in den Fratzen kein Erinnern mehr
an die atmende Erde.
Akamantomenios 11,775. Gesang
aus: Franz Neovalis Neulinger, Skizzen eines imaginaeren Reiches. German
nur der tod ist die mystische zange
die dir durchs hirn greift
ein omen und schlagen der eisernen angst
ans tor deiner denkkraft
nur der tod ist die säule aus stein
begraben im erdreich des schweigens
nur der tod tropft als flüssig stille
die hinter dem vorwerk der stirn
die entarteten zellen teilt
ein verschrieb in den folianten
die losnummer null und frostzeitenesse
in der sie dich kaltschmieden
vor laufenden kameras
nur der tod ist ein stolpern
im linkswalzer leben
der mensch: ein lemniskaten-durchtanzer
und leises verhallen des lichts
das du dir selbst hobelst
mühelos von den zügen der maske
selbst wenn du dich morgen
sterblicher findest
um diesen span.
Gespräch der Substanzen
aus: Hans Magnus Enzensberger, Verteidigung der Wölfe
aber das bor, aber in ihren brunnen
die aromatischen öle: wer fragt zink und zyan,
wer kümmert sich um die kolloide, den haß
zwischen kalk und arsen, die liebe der radikale
zum wasser, der transurane schweigende raserei?
niemand liest die manifeste der seltenen erden,
das geheimnis der salze, in drusen versiegelt,
bleibt ungelöst, unbesungen der alte zwist
zwischen links- und rechtsdrehenden aldehyden,
unberufen der klatsch der hormone. hochmut
treibt die kristalle, unter den silikaten
geht die rede von kies, die spaten, die blenden
flüstern, die kleesäuren und asbeste.der äther
in seinen ampullen hetzt gegen den schwefel, das jod
und das glyzerin. feindlich warten in blauen flaschen
bleizucker, phosphor und sublimat. ihr mörder!
ihr boten! ihr wehrlosen zeugen der welt!warum kann ich nicht konten und feuer löschen,
abbestellen die gäste, die milch und die zeitung,
eingehen ins zarte gespräch der harze,
der laugen, der minerale, ins endlose brüten
und jammern der stoffe dringen, verharren
im tonlosen monolog der substanzen?
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Updated: 25 Jun 2006