1997
Das Haus liegt hoch über der Stadt und eröffnet einen wunderbaren Blick auf das Stift Klosterneuburg und über Dächer und Baumwipfel hinweg auf die Landschaft. Das ideale Refugium für einen Tonschöpfer, wie ihn sich ein romantisch geprägtes Künstlerbild imaginiert? Der Anachronismus solcher Vorstellungen wird einem im Gespräch mit Karlheinz Essl ganz rasch bewußt. Der Mittdreißiger, der einen zuvorkommend hereinbittet, wirkt auf den ersten Blick eher unauffällig. Er könnte ebenso gut Hochschulprofessor sein wie Komponist: Philosoph vielleicht oder Linguist, oder aber Naturwissenschaftler. Von allem steckt etwas in ihm. Jene bezwingende Aura, die magnetische Ausstrahlung, die der Mythos dem Künstler beilegt, könnte man ihm nicht nachsagen, Klarheit eher und ein uneitles Selbstbewußtsein. Das Haus und seine Einrichtung wirken ebenso: zeitgemäß, wohlorganisiert, klar und ordentlich, lichte moderne Räume, mit unaufdringlicher, fast unauffälliger Raffinesse eingerichtet, nichts Ablenkendes, Verwirrendes, Unübersichtliches. Aber auch nicht asketisch, sondern durchaus mit Freude an dekorativem Design. Details, wie ein Bauhaus-inspirierter Schaukelstuhl ohne Kufen und Armlehnen, offenbaren in all der Funktionalität einen fröhlichen Spieltrieb.
"Das alles habe ich damals nicht gewußt, aber das Empfinden war da für diese extremen Brüche dieser widerstreitenden Geisteshaltungen. An der Musik hat mich fasziniert: Hinter der klingenden Oberfläche liegt ein komplexes Beziehungsgeflecht, hinter der Oberfläche des Hörens verbergen sich unglaubliche Inhalte und Sinnstiftungen. Was mir auch gefallen hat, ist die Offenheit dieser Musik, ab dem Barock wird es dann verfestigter, floskelhafter. Die Wiener Klassik, die Romantik haben mich eigentlich nie interessiert."
Als einzigen "klassischen" Anknüpfungspunkt nennt Essl Johann Sebastian Bach. Dort angefangen, hat er sich "hinaufgearbeitet" durch die Musikgeschichte bis zu Schönberg und Webern. Bei letzterem interessieren ihn vor allem die Werke,
"die so um 1910 entstanden sind. Da sind alle Vorgaben zerbrochen, es gab die Tonalität nicht mehr, eine total unsichere Situation. Die Komponisten damals waren eigentlich nur auf's Hören und Empfinden verwiesen und haben quasi 'ohne Netz' komponiert. Dieses 'ohne Netz'-Arbeiten, das Ausspüren von Möglichkeiten, sich intuitiv leiten lassen - das ist ein wichtiges Thema für mich, ganz entgegen dem verbreiteten Vorurteil, daß Arbeit mit dem Computer bedeutet, daß alles determiniert ist."
"Als ich das Web kennenlernte, wußte ich sofort: Das ist das Medium. Auch weil mich das Intertextuelle, der Hypertext immer schon interessiert hat."
Als "Hypertext" bezeichnet man, wenn an die Stelle eines Textes, der linear zu lesen ist, die Möglichkeit tritt, sich in einem Tat aus auf andere beziehen, die zugleich vorhanden sind. Im Internet wird diese Struktur, deren Begriff so recht eine Errungenschaft der Postmoderne ist, sinnfällig, indem man durch Querverweise jederzeit auf die verschiedenen Ebenen springen kann - und zurück. Noch ehe das World-Wide Web gesponnen war und die Entdeckung der Intertextualität die Wissenschaftstheorie durchdrungen hatte, war Essl schon auf das Phänomen gestoßen:
"Mit 19 Jahren habe ich den Ulysses von Joyce gelesen und mir das Buch als Hypertext aufgearbeitet, weil es ja ständig Beziehungen gibt zwischen den einzelnen Kapiteln, Themen und Motiven - und da habe ich versucht, mir mit Quervenweisen eine Netzstruktur, eine Art Pfad durch das Buch zu legen. Das habe ich dann mit allen Büchern gemacht: bei der Lektüre Verweise angelegt zu anderen Büchern - meine ganze Bibliothek zu dieser Zeit war ein einziges Verweissystem.".
Neben seiner paradigmatischen Qualität hat das Internet auch ganz praktische Tugenden: Es erleichtert Karlheinz Essl die Weitergabe von Informationen (Kopierer und Bundespost, adieu) und ermöglicht vor allem Kommunikation über und im Umfeld der kompositorischen Arbeit. "Ich arbeite sehr viel mit Künstlern aus verschiedenen Bereichen zusammen, international. Zum Teil kennen wir uns gar nicht." Vermißt er nicht die Unmittelbarkeit persönlicher Kontakte in künstlerischen Prozessen? Er lacht und korrigiert sogleich das schiefe Bild, das da vielleicht entstehen könnte. "Das ist nur ein Aspekt. Ich habe sehr viele persönliche Kontakte, ich bin kein einsamer Wolf, der da oben sitzt und im Internet herumsurft."
"Auf ehemaligem militärischen Sperrgebiet hat die Stadt Kopenhagen ein Kulturzentrum eingerichtet. Die Idee von MindShip war, Künstler und Wissenschaftler von überall her zu einem interdisziplinären Diskurs einzuladen - aus der Erkenntnis, daß Wissenschaft und Kunst verschiedene Sprachen sprechen, doch ähnliche Themen und Interessen haben."
In dreiwöchigen Seminaren wurden gemeinsame Projekte der verschiedenen Teilnehmer initiiert; Karlheinz Essl realisierte mit Vibeke Sørensen eine Installation mit Computern, Texten der Teilnehmer, mit Bildern, Videos und mit Musik von Essl, die den "Geist des MindShip" widerspiegelten: MindShipMind. Beide wollten diese Zusammenarbeit weiterzuführen und entwickelten eine Internet-Version von MindShipMind.
"Der Witz dieser Installation", erläutert Karlheinz Essl, "besteht darin, daß es sich nicht um eine fixe Abfolge von vorgefertigten Objekten handelt, die der Betrachter abruft, sondern es ist wie in einem unendlichen Buch. Jedesmal, wenn man eine Seite aufruft, wird diese in Echtzeit generiert - aus Textpartikeln, die aus Statements der Teilnehmer des Projektes bestehen. Die Statements haben wir dekonstruiert, und diese Satzfragmenten werden jetzt mit einem Computerprogramm, das im Web installiert ist, immer neu zusammengesetzt, so daß sie immer neuen Sinn ergeben. Diese Texte sind nicht sinnlos, aber zum Teil fürchterlich abstrus."
Als Dada will Essl dieses Phänomen nicht verstanden wissen, denn während Dada durch Fragmentierung Kritik an der bestehenden Situation artikulierte, geht es dem Komponisten und der Videokünstlerin (das Zusammenwirken der beiden an der Installation sprengt sowieso die Spartenzuweisungen) darum, "durch die Auflösung und Neukombination von Textfragmenten zu neuem Sinn zu kommen, zu neuem Bewußtsein. Das hat einen sehr positiven Aspekt." Text, Bilder, Videosequenzen aus dem Web, Musik - auch in Echtzeit generiert - sowie eine Flüsterstimme: Alle Elemente beziehen sich thematisch aufeinander, doch die Bezüge konstituieren sich durch die Interaktion mit dem Betrachter immer neu; das hat etwas reizvoll Spielerisches, verlangt aber zugleich Interpretationsleistung vom Betrachter. Das gilt auch für Essl's Musik:
"Ich mache nicht Musik, die ein komplizierter Code ist, den man entschlüsseln muß - und wenn man ihn nicht versteht, ist man blöd und hat nichts davon", sondern er vergleicht seine Musik einem Labyrinth: "Das Labyrinth hat viele verschiedene Wege, die alle sinnvoll sind. Der Hörer betritt das Labyrinth, sucht sich seinen Weg und erlebt dadurch eine Lesart des Stückes. Und beim nächsten Mal eben eine andere."
Mit dem Bild des Labyrinths und dem von Eco geprägten Begriff des Offenen Kunstwerks, den Karlheinz Essl hier zur Anwendung bringt, schließt sich der Kreis von Mittelalter zur Postmoderne. In Abgrenzung aber etwa zur Aleatorik führt Essl diese Offenheit wieder zusammen mit einem Werkbegriff: Die Offenheit entsteht auch in "traditionellen" Kompositionen, die eine fixierte Niederschrift haben,
"indem viele Ebenen parallel laufen, sich miteinander in Korrespondenz befinden. Der Hörer ist gar nicht fähig, alle zur gleichen Zeit wahrzunehmen. Also 'springt' er. Die Wahrnehmung nämlich ist auch ein Parameter in der Kunst, einer, um den man sich früher gar nicht gekümmert hat."
Das MindShipMind, in dem all diese Aspekte - das Labyrinthische, die Mehrsträngigkeit, die selektierende Wahrnehmung des Rezipienten - in eine spartenübergreifende Kunstform überführt sind, wurde ausgewählt von der "Inter-Society for the Electronic Arts" (ISEA) und wird im Herbst 1997 in Chicago präsentiert.
"Das ist wunderbar", kommentiert Essl die Salzburger Einladung. "Seit Mortier und Landesmann die Salzburger Festspiele machen, hat das Festival eine ganz neue Dimension gewonnen: eine Öffnung gegenüber neuer Kunst. Das Schöne ist", präzisiert er, "daß dort nicht nur ein paar Werke von mir gespielt werden, sondern ich auch die beiden Konzerte programmieren konnte."
Hans Landesmann kannte Karlheinz Essl als Konzertveranstalter, denn als Musikintendant im SCHÖMER-HAUS in Klosterneuburg zettelt er viermal im Jahr ausgesuchte Neue-Musik-Ereignisse an, die überregional Beachtung finden. Für das Mozarteum hat Essl nun ein Konzert unter dem Motto "Väter" entworfen, das vom Klangforum Wien unter Johannes Kalitzke realisiert wird und Musik von Essl's musikalischen Vätern Stockhausen, Cage und Dunstable (als Vertreter der gotischen Musik) in Beziehung setzt zu eigenem; das zweite Konzert bezieht sich auf den Raum in seiner Vieldeutigkeit als geographischer, akustischer, elektronischer Raum - "Klangraum": Neben Essl's IRCAM-Arbeit Entsagung spielt das Ensemble Modern unter Leitung von Hans Zender Orchesterstücke von Webern, Kurtàg und Scelsi sowie die Uraufführung von ...wird sichtbar am Horizont, Essl's Auftragskomposition für die Salzburger Festspiele. Das musikalische Material der Klanginstallationen verweist auf die beiden Konzerte: Amazing Maze im bepflanzten Tunnel entlang der Mauer des Mozarteums im Mirabellgarten ist eine Art "Klanglabyrinth", das sich fortwährend verändert, generiert mit Klangmaterial aus "Entsagung"; integriert in die Ausstellung "Hermann - Vater und Sohn" ist im Schüttkasten die Lexikon-Sonate für computergesteuertes Klavier zu hören. Die phantasievollen Titel übrigens sind nicht etwa nachträglich angebrachte Etiketten, sondern meist schon am Anfang "da"; als Sprachform für poetische Idee des Stückes fungieren sie bei der Komposition als "Anker". Ließe sich in einem Satz die Programmatik, das "Anliegen" des Karlheinz Essl formulieren, gewissermaßen "Essl zum Mitnehmen" für die Salzburg-Besucher? Diesem Ansinnen geht er nicht auf den Leim.
"Das würde allem widersprechen, worüber wir geredet haben: der Offenheit, der Komplexität. Wenn ich meine Position bestimmen muß, kann ich das nur ex negativo tun: In der Nicht-Eindeutigkeit, in der Einladung an den Hörer, im Visionären."
in: SIM's Festivals, hrsg. Edith Köll-Obrovnik (Guntramsdorf 1997)
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Updated: 26 Sep 2017